Grossraubtiere: Enge Verwandte aus dem Osten

Nr. 39 –

Der Kanton Bern gibt einen Luchs zum Abschuss frei, der Schafe und Ziegen gerissen hat. Das sorgt für Kritik. Doch die grösste Gefahr für die scheuen Katzen liegt woanders.

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ein Luchs im Unterholz
Luchse wandern weniger weit als Wölfe und fressen vor allem Rehe und Gämsen. Foto: Imago

Wenn Rehe wählen könnten, wäre der Fall klar: Lieber vom Luchs erwischt werden als vom Wolf. Während Wölfe ihre Beute hetzen und dabei oft zuerst verletzen, schleichen sich Luchse an und töten schnell: mit einem Biss in die Kehle.

Im Jura, in den Berner, Waadtländer und Freiburger Voralpen sind die gefleckten Katzen fast in jedem Wald zu Hause. Aber sie verstecken sich gut. Meistens jagen sie Rehe, oft auch Gämsen, hin und wieder einen Hasen, einen Fuchs oder einen Vogel.

Auf den Schafgeschmack gekommen

«Die meisten Luchse reissen keine Nutztiere», sagt Kristina Vogt, Luchsspezialistin bei Kora, der Stiftung für Raubtierökologie und Wildtiermanagement, die nebst eigenen Projekten im Auftrag von Bund und Kantonen arbeitet. Doch im Berner Oberländer Kandertal hält sich ein Luchsmännchen nicht an den üblichen Speiseplan: Ab Mitte Juni riss das Tier mit der Nummer B 903 auf der Alp Tschingel der Gemeinde Kandergrund fünf Schafe. Drei weitere konnte man nicht sicher identifizieren, weil sie schon von Geiern angefressen waren.

Im Juli holten die Schafhalter:innen ihre Tiere von der Alp und forderten den Abschuss des Luchses. In einem offenen Brief an den Berner Regierungsrat Christoph Ammann griff der Simmentaler SVP-Nationalrat Thomas Knutti die Berner Jagdinspektorin Nicole Imesch persönlich an. Ammann wies die Vorwürfe zurück und machte Knutti auf das «Konzept Luchs Schweiz» aufmerksam, das den Umgang mit dem Tier regelt. Der Abschuss eines Luchses ist zulässig, wenn er mindestens fünfzehn Nutztiere gerissen hat – die Kantone haben darüber hinaus einen gewissen Spielraum, müssen aber das Bundesamt für Umwelt (Bafu) beiziehen. Laut Kora wurden seit 1997 neun Luchse wegen Nutztierrissen legal geschossen.

Inzwischen hat der Kanton Bern den Luchs B 903 doch zum Abschuss freigegeben. Das Jagdinspektorat schreibt auf Anfrage der WOZ: «Mit dem Riss von zwei Geissen am 6. September und somit dem Angriff auf die dritte Nutztierherde diesen Sommer hat der Luchs nach Auffassung des Bafu und des Jagdinspektorats bestätigt, dass er sich auf das Reissen von Nutztieren spezialisiert hat.» Es sei davon auszugehen, dass der Luchs weiterhin Schafe töten werde und sein Verhalten nur schwerlich zu ändern sei. «Wichtig für die Interessenabwägung war auch der Fakt, dass wir im Berner Oberland eine hohe Luchsdichte haben und die Entnahme eines Einzeltiers somit von der Population aus betrachtet nicht ins Gewicht fällt.»

David Gerke, Geschäftsführer der Gruppe Wolf Schweiz, kritisiert die Abschussverfügung: «Warum definiert man eine Schadensschwelle von fünfzehn Rissen und hält sich dann nicht daran? Das ist ein gefährlicher Präzedenzfall. Es ist wichtig, dass sich beim Luchs keine präventive Regulierung einschleicht – er ist viel verletzlicher als der Wolf.» Gerke stellt auch grundsätzliche Fragen: «Die Schafe wurden auf einer Alp gerissen, die als ‹nicht schützbar› gilt. Solche Alpen haben keine Zukunft – Herdenschutz ist die Zukunft.» Es gebe zwar kleine Alpen, wo es sich nicht lohne, eine:n Hirt:in anzustellen oder mit Herdenschutzhunden zu arbeiten. «Sie könnte man zum Beispiel statt mit Schafen mit den robusteren Yaks nutzen.»

Gabor von Bethlenfalvy, Grossraubtierspezialist des WWF, hat hingegen Verständnis für das Vorgehen. «Da der Kanton Bern zuvor das Bafu angehört hat, gehen wir davon aus, dass der Abschuss korrekt begründet und verfügt wurde. Die Unterlagen müssen wir aber noch vertieft prüfen.» Um Konflikte zu entschärfen, ermögliche das Gesetz den Abschuss eines Tiers, das sich auf Nutztiere spezialisiert habe.

Genetisch verarmt

Die grosse Bedrohung für den Luchs liege ohnehin woanders, sagt von Bethlenfalvy: bei der genetischen Verarmung der Schweizer Population. Kristina Vogt von Kora kann das genauer erklären: «Alle Luchse, die heute in der Schweiz wild leben, stammen von den wenigen Individuen ab, die man in den siebziger Jahren ausgesetzt hat. Sie kamen aus den slowakischen Karpaten, einige waren sogar damals schon verwandt.» Inzwischen gebe es vor allem unter den Luchsen in den Alpen deutliche Anzeichen für Inzucht, etwa krankhafte Herzgeräusche.

Der fehlende genetische Austausch hat auch mit der langsamen Ausbreitung der Art zu tun: «Ein Wolf wandert einfach mal hundert Kilometer und schaut, ob er Artgenossen findet. Luchse sind viel zurückhaltender, vor allem die Weibchen. Sie haben auch mehr Mühe, dicht besiedelte Gebiete oder Autobahnen zu überqueren.»

Um das Problem der genetischen Verarmung anzugehen, wäre es sinnvoll, weitere Tiere aus den Karpaten in der Schweiz auszusetzen, sagt Vogt. Eine Arbeitsgruppe von Bund und Kantonen beschäftige sich damit. «Der Austausch kann in beide Richtungen gehen: Die Schweiz hat auch bereits einige Luchse anderen europäischen Ländern zur Verfügung gestellt.» Für die jüngsten Umsiedlungen wurden allerdings nur Tiere aus dem Jura verwendet. «Bei Luchsen in den Alpen ist die genetische Vielfalt zu tief, die Gesundheitsprobleme sind zu häufig.»