Auf allen Kanälen: Pedalen im Kreis

Nr. 38 –

Was bleibt dem Sportjournalismus, wenn plötzlich keine Wettkämpfe mehr stattfinden? Der Berner Filmemacher Jan Mühlethaler gibt mit Porträts von RadsportlerInnen eine Antwort.

gruessevondraussen.com

So eindeutig die Nachfrage nach gewichteter Information während des Lockdowns zunahm, so hart traf es eine Sparte, die sich vorher kaum Sorgen um ihre Einschalt- und Lesequoten machen musste: den Sportjournalismus. Die Zahl der Liveübertragungen war bis dahin auf allen Kanälen fast exponentiell gestiegen. Vor- und Rückschauen, Analysen und Hintergründe erschienen in Endlosschleife. Doch mit dem Lockdown verschwand für eine Weile fast alles: keine Spiele, keine Wettkämpfe, keine Fussball-Europameisterschaften, kein Olympia. Rodscher wurde zur Randfigur, die Nati blieb zu Hause.

Dünn und dünner geriet der Sportteil, bald erschöpften sich die verbliebenen Themen: Wie übersteht Granit Xhaka die Quarantäne? Wie trainiert Mujinga Kambundji? Wem nützt das Hilfspaket für Spitzenklubs, wann kollabiert die Liga? Das Fernsehen zeigte Wiederholungen alter Kamellen, mitfiebern war passé. Die ganze überkommerzialisierte Ablenkungsmaschinerie namens Sport lag darnieder, die Millionen an Preis- und Werbegeldern, Transfer- und Ablösesummen erschienen nur noch als das, was sie auch sind: grotesk. Wer da als SportjournalistIn nicht in eine tiefere Sinnkrise geriet, brauchte ein robustes Selbstbewusstsein.

Ausgerechnet diese Zeit nutzte der Berner Filmemacher Jan Mühlethaler für sechs Kurzfilme mit Porträts über sieben RadsportlerInnen. «Innen-Sicht» heisst seine Serie, in der nur die SportlerInnen zu Wort kommen – prominente wie Emma Pooley oder die beiden aktuellen Tour-de-France-Fahrer Stefan Küng und Michi Schär, NachwuchsfahrerInnen wie die Geschwister Noemi und Timon Rüegg.

Ich, ich und ich

Klar wird, dass im Sport nur etwas im Mittelpunkt steht: «Ich!» Stefan Küng spricht es denn auch einmal aus: «Es geht ums Ego.» Dass SpitzensportlerInnen ein überaus grosses Ego benötigen, ist logisch – ohne schafft es niemand an die Spitze. Doch gerade bei VelofahrerInnen potenziert sich die Beschäftigung mit sich selber, während der stundenlangen Trainings, der Abertausend immer gleichen Pedalumdrehungen: Was tut mir gut, was mache ich gerne, was kann ich? Und: Wie gewinne ich? Wie schaffe ich das? Wie erreiche ich Perfektion? Wie trickse ich mich aus, was passiert in meinem Kopf und meinem Körper? Ultradistanzfahrer Fabian Burri beschreibt dies genau: «Du grännisch, du lachsch, du singsch. Du redsch mit dir sälber ufem Velo.»

Nun zeigt Mühlethaler keine mentalen Monster, die alles rundherum platt walzen, sondern denkende junge Menschen, willens und fähig zur Reflexion. Viele hintersinnen sich, warum das Ego so im Zentrum steht. So fragt Zeitfahrspezialistin Marlen Reusser: «Dass alle sagen, du bist die Beste der Welt gewesen, gut gemacht – was ist das für ein Ziel?»

Sätze für die Sportewigkeit

Sie alle fragen sich: Was mache ich da? Warum mache ich das? Was will ich damit erreichen? Warum die Leiden, warum der Schmerz? Sie geben ihre Antworten in Varianten, ihren Stärken, Hoffnungen und Zielen entsprechend. Emma Pooley, die ihre Profikarriere beendet hat, beschreibt ihre andauernde Sucht, zu trainieren, mit ein paar Sätzen für die Sportewigkeit: «Es bringt niemandem etwas. Es ist total sinnlos. Das weiss ich. Man fährt diesen grossen Kreis, kommt wieder nach Hause und ist zufrieden.»

Mühlethaler unterlegt die Monologe mit kurzen Sequenzen der Trainingsfahrten im Frühling, an denen man sich nicht sattsehen mag. Die Bilder der ruhigen, aber intensiven Einheiten im Mittelland und in den Voralpen wirken wie Reisefilme aus nah und fern. In der rhythmischen Monotonie erahnt man das Glück und die Leiden, die die Porträtierten dabei erleben, die Selbstgespräche, die sie führen. Sie wecken bereits eine Art Sehnsucht nach dem vergangenen Frühling, denn die Idylle der praktisch verkehrsfreien Strassen und Strässchen ist schon wieder verflogen.

Glücklich, wer den Lockdown so verbringen konnte, für wen das Bleiben-Sie-zu-Hause-bitte-alle solche täglichen Trainingsausfahrten mit sich brachte. Und glücklich sicher auch, wer während des Lockdowns solche Porträts produzierte. Ohne Auftrag, ohne Lohn, ohne Quoten.

Die Filme gibts im Netz: gruessevondraussen.com .