«Hexenkinder»: Leben nach einer Kindheit in der Hölle

Nr. 38 –

Der Luzerner Regisseur Edwin Beeler taucht in seinem neuen Dokumentarfilm tief in eine Welt von Hexenwahn und Teufelsglauben ein – eine Welt, die noch gar nicht so lange zurückliegt.

Als Kind von Nonnen gequält: Noch heute leidet MarieLies Birchler an den Folgen. Foto: Privatarchiv, Still: Calypso Film AG

Es könnten Zeugnisse von Folteropfern aus Abu Ghraib oder Guantánamo Bay sein: «Ich wurde in eine mit eiskaltem Wasser gefüllte Badewanne gesetzt, musste bis zehn zählen. Dann packte man mich an den Haaren am Hinterkopf und drückte mir den Kopf unter Wasser, und zwar so lange, bis ich kaum mehr atmen konnte. Dann zog man mich hoch, damit ich Luft holen konnte. Dann wieder unter Wasser. So ging das mehrmals. Ich hatte Todesangst.»

Drei Jahre alt war MarieLies Birchler, als sie Anfang der fünfziger Jahre erstmals dieser Tortur unterworfen wurde. Von da an ging das Abend für Abend so. Das Vergehen des Mädchens: MarieLies war Bettnässerin. Mit zwei Jahren war sie ihrer Mutter entrissen worden, weil diese, wie ein Aktenvermerk erklärt, «das Kind vernachlässigte und Herrenbesuche empfing». Mit der geschilderten Behandlung in der eiskalten Badewanne sollte das nächtliche Harnlassen unterbunden werden.

Doch für das Heimkind stand noch mehr auf dem Programm. Wie MarieLies Birchler in Edwin Beelers Dokumentarfilm «Hexenkinder» erzählt, wurde sie danach regelmässig mit einem Stock oder Besenstiel geprügelt und dann kommentarlos ins Bett geschickt. Zudem hatte sie ab vier Uhr nachmittags Trinkverbot. Und weil das zu Flüssigkeitsmangel und zu Verstopfung führte, mischte man ihr Rizinusöl in die Frühstücksmilch. Wenn sie sich weigerte, das eklige Gebräu zu trinken: erneute Prügel.

Die Bigotterie ist aktenkundig

Es waren Nonnen vom Franziskanerorden der Ingenbohlschwestern, die dieses Regime errichtet hatten, die «Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz» im Waisenhaus Einsiedeln. Dabei geschahen die Quälereien, die Kindern wie MarieLies angetan wurden, nicht spontan aus der «Überforderung der Schwestern» heraus, wie es Jahrzehnte später in der offiziellen Entschuldigung hiess. Vielmehr hatten sie System, waren ideologisch unterfüttert. «Du bist der wahre Teufel und vom Teufel besessen» – solche Sätze hörte MarieLies häufig. Und 1957 hielt eine Aktennotiz des Waisenamts in Einsiedeln über das damals sieben Jahre alte Mädchen fest: «Es besitzt die Schulreife noch nicht, ist aber sittlich verwahrlost.»

Von solchen Aussagen, die von einer unterschwellig sexuell aufgeladenen Bigotterie zeugen, schlägt Beelers Film den Bogen zu den Hexen im Titel. Er begibt sich ins 17. Jahrhundert, als repressives Kirchenpersonal sich an Kindern vergehen durfte, mit manchmal tödlichen Folgen. Etwa an der elfjährigen Katharina Schmidlin aus Romoos, die 1652 nach einem Verhör gestand, dass «ein schwarzer boshafter Bube mit dem Glied an ihrer geheimen Natur gekutzelt» und ihr beigebracht habe, wie man «Vögel machen» könne. Gemäss dem Verhörprotokoll, das im Staatsarchiv Luzern lagert, wurde das «Fötzeltrini» genannte Mädchen am 16. November 1652 «im Turm stranguliert».

Der Historiker Philippe Bart vom Staatsarchiv Zug, wo ebenfalls zahlreiche Verhörprotokolle aus dem 17. Jahrhundert lagern, spricht im Film davon, dass allein im Kanton Zug 195 Hinrichtungen wegen «Hexerei» dokumentiert seien – davon mindestens zehn Kinder. In der ganzen Schweiz sind zwölf Kinder namentlich dokumentiert, die zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert diesem Wahn zum Opfer fielen; die tatsächliche Zahl dürfte aber viel höher liegen.

Das Schweigen des Ordens

Neben MarieLies Birchler, der Hauptprotagonistin von «Hexenkinder», porträtiert Beeler vier weitere ehemals «administrativ Versorgte», die in kirchlich geführten Heimen – eines davon auch von der evangelischen Kirche – ihrer Kindheit und Jugend beraubt wurden. Die meisten leiden bis heute an den Folgen der damaligen Quälereien. Ihre erschütternden Zeugnisse ergänzt Beeler im Film mit mehrheitlich düsteren Landschaftsaufnahmen. Unterlegt von Akkordeonklängen des US-Jazzers Guy Klucevsek, zeigen sie fast durchgehend das Element Wasser in seinen unterschiedlichen Aggregatszuständen. Das wirkt bisweilen etwas forciert metaphorisch, gibt dem Film aber als Kontrast zu den erdrückenden Geschichten auch eine gewisse Leichtigkeit.

Im Abspann findet sich dann der bemerkenswerte Satz: «Die Provinzleitung der heutigen Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz hat eine Mitwirkung im Film abgelehnt.» Die Begründung: Die Ordensgemeinschaft habe sich bereits 2013 im Rahmen der Aufarbeitung ihrer Geschichte entschuldigt. Auf Beelers Nachfrage, ob sich die Ingenbohler Schwestern nicht umstimmen liessen, antwortete deren Rechtsvertreter Magnus Küng: «Die Klosterfrauen sind nicht bereit zu einer Inszenierung vor der Kamera.» Der gleiche Magnus Küng war 2013 Präsident der Expertenkommission, die die Geschichte der Ingenbohler Schwestern aufgearbeitet und in ein möglichst günstiges Licht gerückt hatte.

Die Verweigerungshaltung der Ordensschwestern wurde Beeler bei der zuständigen Förderkommission beim Bundesamt für Kultur zum Verhängnis. Zweimal wurden seine Gesuche abgelehnt, bei der zweiten Absage warf man ihm vor, dass im Film nur die Opfer zur Sprache kämen. Wo sei die Position der Gegenseite? Mit diesem Argument sei er förmlich bombardiert worden, sagt Beeler: «Ja, ich habe einen anwaltschaftlichen Film gemacht.» Nicht um die erwachsenen Täterinnen und Täter geht es ihm, sondern um die Perspektive der Kinder von damals – und darum, mit welcher Kraft sie ihr Schicksal gemeistert haben.

Hexenkinder. Regie: Edwin Beeler. Schweiz 2020