Der Prozess: Ein Regime auf der Anklagebank

Nr. 39 –

In Deutschland findet zurzeit ein weltweit einzigartiges Verfahren statt: Erstmals müssen sich zwei syrische Geheimdienstmitarbeiter vor Gericht verantworten.

Anwar R. sitzt auf seinem Platz auf der rechten Seite des Saals, hört konzentriert zu und macht sich Notizen auf kleinen Zetteln, die er jeweils aus einem Umschlag zieht. Manchmal reicht er einen Zettel an den Übersetzer weiter, der neben ihm sitzt. Dieser soll die Nachricht dann für R.s Verteidiger übersetzen – wohl, damit dieser die richtigen Fragen stellt.

Mit dem Fragenstellen kennt Anwar R. sich aus. Siebzehn Jahre lang hat er beim syrischen Geheimdienst gearbeitet, viele davon als Ermittlungsleiter. Unter anderem war er in der Abteilung 251 angestellt, zu der das berüchtigte Al-Khatib-Gefängnis in Damaskus gehört. R.s Büro befand sich im ersten Stock, die Folterzellen liegen im Keller des Gebäudes. Deshalb sitzt der 57-Jährige jetzt in Saal 128 des Koblenzer Oberlandesgerichts: Er ist wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt.

Ein Zeichen an Diktatoren

Die deutsche Bundesanwaltschaft wirft R. 58-fachen Mord und Folter in mindestens 4000 Fällen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung vor. Er habe, so hat es der Oberstaatsanwalt beim Prozessauftakt Ende April vorgetragen, Befehlsgewalt über die Vernehmungsbeamten und das Gefängnispersonal in al-Khatib gehabt.

Von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 seien mindestens 4000 Häftlinge der Abteilung 251 gefoltert worden, 58 seien an den Folgen gestorben. Verhöre ohne Misshandlungen habe es praktisch nicht gegeben. Zumindest in jeweils einem Fall sei es auch zu einer Vergewaltigung und einer schweren sexuellen Nötigung gekommen. Den Inhaftierten, so die Anklage weiter, wurde zudem angedroht, nahe Angehörige zu misshandeln. So sollten Geständnisse erzwungen und Informationen über die Oppositionsbewegung gewonnen werden.

Es ist ein weltweit bislang einzigartiges Verfahren, das mindestens noch bis Mai 2021 läuft: Erstmals müssen sich Baschar al-Assads mutmassliche Folterknechte vor Gericht verantworten. Dass diese vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden, haben Russland und China durch ein Veto im Uno-Sicherheitsrat verhindert.

Der Prozess in Deutschland ist möglich, weil im deutschen Völkerstrafgesetzbuch seit 2002 das Weltrechtsprinzip verankert ist. Seitdem kann die Justiz dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann verfolgen, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind. Auch die Schweiz verfügt seit 2011 über die gesetzliche Grundlage, um ausländische KriegsverbrecherInnen im eigenen Land verfolgen zu können.

Der Prozess soll den Opfern Gerechtigkeit bringen. Er soll aber auch ein Zeichen an Diktatoren wie Assad senden: dass der Rechtsstaat zu handeln bereit ist und Taten geahndet werden.

Schwer erträgliche Berichte

Anwar R., graues Haar, Brille, Schnauzer, hat unter dem linken Auge ein auffälliges Muttermal. Wie alle ProzessteilnehmerInnen wird er durch einen Aufsteller aus Plexiglas vor dem Coronavirus geschützt. Wenn die Kameras zu Beginn eines jeden Prozesstags im Saal erlaubt sind, verdeckt er – anders als sein Mitangeklagter – das Gesicht nicht. R. will sich nicht verstecken – im Gegenteil: Er hält sich stets aufrecht, blickt häufig offen in den Saal.

Bislang hat er im Prozess noch kein Wort gesagt. Mitte Mai aber hat sein Verteidiger eine Einlassung verlesen. Darin räumt Anwar R. ein, die Unterabteilung Ermittlungen beim syrischen Geheimdienst geleitet zu haben, alle anderen Vorwürfe streitet er ab. «Ich habe niemanden geschlagen oder gefoltert, ich habe auch niemals einen Befehl dazu erteilt», las der Verteidiger vor. Misshandlungen habe es zwar gegeben, doch dafür seien andere Abteilungen verantwortlich gewesen. Auch seien ihm wegen seiner Versuche, Inhaftierte zu entlassen, bereits im Juni 2011 die Kompetenzen entzogen worden.

Bis Anfang 2011 scheint sich R. mit dem Regime identifiziert zu haben, da wurde er noch zum Oberst befördert. Doch dann trauten sich die Menschen in Syrien endlich, gegen das Assad-Regime auf die Strasse zu gehen. Dieses versuchte, die Proteste mit brutaler Gewalt niederzuschlagen, Oppositionelle und AktivistInnen wurden verfolgt, Geheimdienste und Militär gingen immer brutaler vor. Die Gefängnisse waren schnell überfüllt. «Das Chaos brach aus», heisst es in R.s Einlassung. Glaubt man ihm, scheint es ihm nicht gepasst zu haben, dass plötzlich unschuldige DemonstrantInnen im Gefängnis landen konnten.

Anwar R. schweigt nicht nur im Prozess, er verweigert auch eine Stimmprobe – wohl aus Angst, jemand der NebenklägerInnen, die die Folter in al-Khatib überlebt haben, könnte ihn an seiner Stimme erkennen. 24 Opfer hat die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage als ZeugInnen aufgelistet. Einer von ihnen ist der Regisseur Feras Fayyad. Schon bei der Ankunft in al-Khatib sei er geschlagen worden, und er habe Schreie anderer Inhaftierter gehört, sagte der Regisseur Anfang Juni vor Gericht: «Das waren Schreie, die waren nicht normal.»

Fayyad berichtete von Tritten und Schlägen mit Kabeln und Stöcken, darüber, wie er an den Händen an der Decke aufgehängt wurde, sodass nur die Zehen den Fussboden berührten, und dass einer der Folterer mehrmals versuchte, einen Stock in seinen After einzuführen. Wie lange er in al-Khatib gefangen war, ob zwei oder drei Monate, weiss Fayyad nicht mehr. In den total überfüllten Zellen ohne Tageslicht verlor er das Zeitgefühl. Mit den Folgen der Folter hat er bis heute zu kämpfen.

Inzwischen haben auch andere Überlebende vor Gericht ausgesagt (siehe Interview «Wie in einem Zustand der Schwerelosigkeit» ). Was sie berichten, ist schwer erträglich – auch deshalb, weil sie indirekt beschreiben, was in Syrien weiterhin passiert. Mindestens 90 000 RegimegegnerInnen sind laut Menschenrechtsorganisationen noch immer in Haft, werden gefoltert, gequält und nicht gehört.

Die Beweislage gegen Anwar R. und seinen Mitangeklagten gilt als dicht: Es gibt viele ZeugInnen und zahlreiche Dokumente, ausserdem die sogenannten Caesar-Files – mehr als 50 000 Fotos, die ein ehemaliger syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar von mehreren Tausend getöteten Gefangenen gemacht und aus Syrien herausgeschleust hat. Das deutsche Bundeskriminalamt hat einen Teil der Fotos forensisch auswerten lassen. In Koblenz werden sie erstmals als Beweise vor Gericht eingesetzt.

Als Geflüchteter in Berlin

Anwar R. ist aber nicht nur der Geheimdienstmann, der dem syrischen Regime treu gedient und in dessen Reihen Karriere gemacht hat. Er ist auch ein prominenter Deserteur, der sich Ende 2012 mit seiner Familie nach Jordanien absetzte und mit einer Delegation der syrischen Opposition an den Friedensverhandlungen in Genf teilnahm. Das Auswärtige Amt in Deutschland hat ihm «im Grundsatz» eine «aktive Rolle» in der Opposition bestätigt.

Für Wolfgang Kaleck ist letztlich nicht entscheidend, ob R. sich geändert hat. Kaleck ist Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin, das sich seit vielen Jahren dafür einsetzt, dass die Verantwortlichen für Folter und Kriegsverbrechen nicht ungestraft davonkommen. «Das entlastet ihn ja nicht vom Vorwurf, für den Tod von 58 Menschen verantwortlich zu sein», sagt er.

Weil Riad Seif, einer der bekanntesten syrischen Oppositionellen, Anwar R. dem Auswärtigen Amt empfahl, kam dieser im Juli 2014 mit einem Aufnahmeprogramm für besonders schutzbedürftige syrische Geflüchtete nach Berlin. Jahrelang lebte er mit seiner Familie als anerkannter Asylsuchender in einer ruhigen Neubausiedlung im Norden der Stadt.

Doch dann fühlte er sich vom syrischen Geheimdienst verfolgt, ging zur Polizei, berichtete von seiner Tätigkeit in Syrien und löste so die Ermittlungen gegen ihn selbst erst aus. Am 12. Februar vergangenen Jahres wurde er an seinem Wohnsitz in Berlin verhaftet.