Ruth Bader Ginsburg (1933–2020): Ihr Blick galt der ganzen Gesellschaft
Der Tod der linksliberalen feministischen Oberrichterin erschüttert die krisengeschwächten, polarisierten USA im Wahlfieber. Es bleibt kaum Zeit für Nachrufe auf Ruth Bader Ginsburg. Ihr wichtigstes Erbe, der Kampf um Gleichberechtigung, ist bedroht.
Nach Bekanntwerden des Todes von Ruth Bader Ginsburg versammelten sich auf den Stufen des Obersten Gerichts in Washington DC spontan Tausende von Trauernden. Frauen aus der Generation der 87-jährigen Altfeministin legten weinend Blumen nieder. Mütter mit kleinen Töchtern zündeten Kerzen an. Einzelne Gruppen sangen Protestlieder. Einer blies den Schofar, weil das Ableben der Tochter von russisch-jüdischen ImmigrantInnen symbolträchtig mit dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana, dem Jahrestag der Weltschöpfung, zusammenfiel. In der Nähe der Black Lives Matter Plaza schufen zwei Spraykünstler ein überlebensgrosses Wandgemälde von Ruth Bader Ginsburg oder RBG, wie sie von ihren Fans in Anlehnung an den US-Rapper The Notorious B.I.G. meist genannt wurde.
Weg mit den Barrieren
«Wer wird sich nun um uns kümmern?», fragte eine junge Juristin in der US-Tageszeitung «Washington Post». Der Verlust der älteren und mächtigeren Kollegin traf sie besonders hart in einer Zeit, in der die Coronakatastrophe, die Wirtschaftskrise und eine korrupte Regierung bereits gewaltig an den Grundfesten des demokratischen Rechtsstaats rütteln. Das Verstummen von RBGs prominenter und verlässlicher Stimme für die Gleichberechtigung und Gleichstellung aller Menschen war für viele US-AmerikanerInnen der Tropfen, der das Fass des Leidens zum Überlaufen brachte. Die Bevölkerung trauerte nicht so sehr um eine überhöhte Superheldin, wie manche US-Medien berichteten, sondern um eine couragierte Landesmutter, die selber viele gesellschaftliche Barrieren überwunden und später per Gesetz abgeschafft hat.
In der ersten Stunde nach dem Tod der beliebten Oberrichterin flossen aber nicht nur die Tränen, sondern auch über sechs Millionen US-Dollar in die Wahlkasse der Demokratischen Partei. Das war ein Rekord in der sechzehnjährigen Geschichte von ActBlue, einer Internetplattform, die Kleinspenden für linke Organisationen und Parteien verwaltet. Innert eines Tages kamen hundert Millionen Dollar für das Team Joe Biden / Kamala Harris zusammen. Das ist halb so viel Geld, wie die Republikanische Partei von Donald Trump den ganzen August über sammelte. Die demokratische Basis scheint hoch motiviert, das politisch-juristische Erbe von Ruth Bader Ginsburg zu verteidigen und fortzuführen.
Für die linken und feministischen NachfahrInnen von RBG ist es besonders wichtig, das Kernanliegen der Juristin – die Gleichberechtigung – als «Work in Progress» zu begreifen, als eine Aufgabe, die ständig überprüft, angepasst und erweitert werden muss. Im Herbst 2009 wurde die Oberste Richterin bei einem Besuch an der Northwestern University gefragt, warum sie überhaupt Juristin geworden sei. Sie verwies auf ihre Erfahrungen als junge Studentin in der McCarthy-Ära der fünfziger Jahre, einer politisch ähnlich polarisierten und demokratiefeindlichen Zeit wie heute. Sie habe damals gesehen, wie Anwälte das verfassungsmässig garantierte Recht auf freie Meinungsäusserung verfochten. Das habe sie beeindruckt. «Als Juristin kann ich das Leben für viele Leute etwas leichter machen», so fasste Ruth Bader Ginsburg im Hörsaal ein halbes Jahrhundert juristischer Praxis zusammen.
Die Abtreibungsfrage
Ihr eigenes Leben war nicht immer leicht. 1954 heiratete Ruth Bader den Studienkollegen Martin Ginsburg, und 1955 kam ihr erstes Kind zur Welt. Trotz glänzender Studienabschlüsse in Jurisprudenz wurde die junge Frau und Mutter bei der Stellensuche abgewiesen. Wenn sie überhaupt einen Job fand, wurde sie unterbezahlt. Noch im Jahr 1965 versteckte sie ihre zweite Schwangerschaft so lange wie möglich, um ihre neue Professur an der Rutgers University nicht zu gefährden. RBG erlebte die Genderdiskriminierung, lange bevor sie sich auch juristisch mit ihr auseinandersetzte.
Mittlerweile Professorin an der Columbia Law School in New York, trat Ruth Bader Ginsburg in den siebziger Jahren für die Bürgerrechtsorganisation ACLU sechsmal vor das Oberste Gericht, um die Gleichberechtigung der Geschlechter einzufordern. Fünfmal war sie erfolgreich. Ihr Hauptargument lautete: Der 14. Zusatzartikel der US-Verfassung, der eine Gleichbehandlung «aller Personen» garantiert, wurde zwar 1868 zum Schutz gegen die Diskriminierung von ehemals Versklavten verfasst, doch der Paragraf sollte auch auf die Ungleichbehandlung von Frauen angewendet werden.
1980 schickte der demokratische Präsident Jimmy Carter die streitbare Rechtsanwältin als erste Frau ans Bundesberufungsgericht für den District of Columbia. 1993 schliesslich wurde die Sechzigjährige auf Empfehlung von Bill Clinton an den Supreme Court gewählt. Im Berufsalltag bewegte sich Ruth Bader Ginsburg pragmatischer und vorsichtiger, als sich das viele Feministinnen wünschten.
Auf bares Unverständnis traf zum Beispiel ihre Einschätzung von «Roe vs. Wade». Dieser Grundsatzentscheid von 1973, der allen US-Amerikanerinnen ein Recht auf Abtreibung zugesteht, wurde in der Frauenbewegung als grosser Sieg gefeiert. RBG befürwortete zwar das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung. Doch sie fand, das Oberste Gericht habe mit dem weitreichenden Urteil der gesellschaftlichen Entwicklung vorgegriffen und den einzelnen politisch und kulturell sehr unterschiedlichen US-Bundesstaaten keinen Spielraum für den eigenen Weg zum Ziel gelassen. Das vorschnelle Vorgehen habe die gesellschaftliche Auseinandersetzung nicht beruhigt, sondern angeheizt und die Gesetzeslage selber unstabil gemacht.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Entscheid wissen wir, dass «Roe vs. Wade» das Leben von Millionen von Frauen im ganzen Land erleichtert hat, so wie sich das RBG von einem gerechten Rechtssystem erhoffte. Doch wie sie ebenfalls prophezeite, unterstützt heute noch ein Viertel der US-Bevölkerung Präsident Trump in erster Linie darum, weil er in seinem «Great America» das Recht auf Abtreibung wieder aufheben will. Auf dem Sterbebett hat RBG ein letztes Mal gegen diesen bedrohlichen juristischen Rückschritt angekämpft. Sie bat, man möge mit der Neubesetzung ihrer Position bis nach der Wahl des neuen Präsidenten zuwarten.
Dieser letzte Wunsch bleibt wohl unerfüllt. Der Supreme Court mit seinen RichterInnen auf Lebenszeit ist zu einem der wichtigsten politischen Kampffelder der Rechtskonservativen geworden. Via Rechtsprechung wollen sie ihre Minderheitsmeinung der Mehrheit der US-AmerikanerInnen aufzwingen.
Symbol des Widerspruchs
Wenn Millionen von Menschen auf der Strasse gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit protestieren, kann man sich zu Recht fragen, ob eine wohlsituierte alte weisse Frau und Machtträgerin einer Eliteinstitution die richtige Heldenfigur für die Gegenwart abgibt. Biografisch war RBG klar in der europäischen und jüdischen Kultur verankert. Sie liebte klassische Opern, nicht Hip-Hop oder Rap. Auf Fotos ist sie meist von hellhäutigen FreundInnen und Bekannten umgeben.
Doch als Juristin hatte sie die ganze Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Identität und ökonomischer Stellung, im Blick, schon bevor der Begriff der Intersektionalität geläufig war. 2013 zum Beispiel entschied das Oberste Gericht der USA, die Südstaaten, die auch nach 1965 noch das Stimmrecht der Schwarzen zu unterdrücken versuchten, könnten nun wieder ohne Oberaufsicht nach eigenem Gutdünken schalten und walten. Ruth Bader Ginsburg legte Widerspruch ein. Sie sagte, wer heutzutage auf den Schutz der Schwarzen WählerInnen verzichte, gleiche einer Person, die den Regenschirm wegwerfe, weil sie bisher nicht nass geworden sei.
Der grösste politische Fehltritt von Ruth Bader Ginsburg ist vielleicht, dass sie nicht «rechtzeitig» zurücktrat. Zu Beginn seiner Regierungszeit hatte Barack Obama eine demokratische Mehrheit im Senat und hätte vermutlich eine linke Nachfolge durchsetzen können. Doch damals war RBG «erst» so alt wie die beiden aktuellen Anwärter auf das Präsidentenamt. Sie wähnte sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere – und sie setzte wie alle auf den Wahlsieg von Hillary Clinton im Herbst 2016. Als dann überraschend Donald Trump ans Ruder kam, versuchte sie, mit unmenschlicher Kraft trotz mehrerer Krebserkrankungen bis zur nächsten Präsidentenwahl durchzuhalten.
Sie hat es nicht ganz geschafft. Nun sind andere an der Reihe, in den USA zum Rechten zu schauen.