Der Plan der US-Rechten: Die Tyrannei der Minderheit

Nr. 26 –

Jetzt der Angriff des obersten US-Gerichts auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau, vor anderthalb Jahren der Sturm des Trump-Mobs aufs Kapitol: Beides sind Symptome einer geschwächten Demokratie.

Seit Wochen dokumentiert ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit dramatischen Zeug:innenaussagen, wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump am 6. Januar 2021 den Sturm aufs Kapitol organisierte und steuerte und versuchte, die reguläre Machtübergabe an Joe Biden zu verhindern, und zwar mit allen Mitteln, auch mit Gewalt. An der öffentlichen Anhörung vom Dienstag offenbarte Cassidy Hutchinson, eine ehemalige Assistentin von Trumps Stabschef Mark Meadows, dass Trump damals persönlich am Putschversuch teilnehmen wollte. Der noch amtierende Präsident sei ausfällig und sogar handgreiflich geworden, als ihn der Personenschutz des Geheimdiensts an der Fahrt zum Kapitol gehindert habe. Hutchinsons Aussage ist bloss die neuste und wohl noch lange nicht die letzte Enthüllung.

Doch noch während der Ausschuss die undemokratischen Machenschaften des letzten Jahres durchleuchtet, setzt sich ein paar Häuser weiter die Tyrannei der Minderheit tatsächlich durch. Die Akteur:innen präsentieren sich diesmal nicht in kriegerischer Aufmachung, sondern in der würdevollen schwarzen Robe der Jurisprudenz: In der zweiten Junihälfte warf das rechtskonservativ dominierte oberste Gericht der USA gleich mehrere wichtige Rechtsgrundsätze der US-Demokratie über den Haufen. Und dies in allen Fällen gegen den Willen einer deutlichen Mehrheit der Amerikaner:innen. «Das ist kein Gericht. Das ist eine Junta», kommentiert der afroamerikanische Journalist und Pulitzer-Preisträger Eugene Robinson in der «Washington Post».

Geburt, Gewehr und Gebet

Das meistdiskutierte Urteil ist das Ende von «Roe v. Wade», also die Aufhebung des seit 1973 verfassungsmässig garantierten landesweiten Rechts auf Abtreibung (siehe «Welches Leben? Welche Wahl?», WOZ Nr. 19/2022 ). Seit dem 24. Juni sind Frauen in den USA wieder Bürger:innen zweiter Klasse ohne Anspruch auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Doch auch der am Vortag, dem 23. Juni, getroffene Entscheid des Obersten Gerichts wird das Leben – oder den vorzeitigen Tod – vieler Amerikaner:innen bestimmen. Denn ungeachtet der zahllosen Studien, die belegen, dass mehr Schusswaffen immer und überall mehr Schusswaffenopfer verursachen, bodigte der Supreme Court mit sechs zu drei Stimmen ein 108 Jahre altes Gesetz des US-Bundesstaats New York, das eine Begründung für das verdeckte Tragen von Waffen verlangte. Das Argument: Das Waffentragen, ob offen oder verdeckt, sei ein verfassungsmässig garantiertes Grundrecht aller US-Amerikaner:innen. Ein Urteil, das sich im ganzen Land auswirken wird.In derselben Woche verwischte die «Junta» auch noch die geltende Trennung von Kirche und Staat. Damit ebnete die extrem konservative Gerichtsmehrheit den Weg für ihr Herzstück: den Umbau der USA vom demokratischen Rechtsstaat in eine fundamentalistisch christliche Nation.

Zurück in die Zukunft

Die Aufhebung von «Roe v. Wade» ist nicht das Ende, sondern der Anfang oder allenfalls ein Etappensieg in diesem theokratischen Langzeitprojekt, dem sich nebst gläubigen Gotteskrieger:innen aus opportunistischen Gründen auch der Rechtspopulist Donald Trump und ein Grossteil der Republikanischen Partei verschrieben haben. Clarence Thomas, der wohl konservativste der US-Bundesrichter, hat bereits angekündigt, welche «Fehlentscheide» des Supreme Court er als Nächstes rückgängig machen will: nämlich den freien Zugang zu Verhütungsmitteln (ein Urteil aus dem Jahr 1965), die Entkriminalisierung des homosexuellen Geschlechtsverkehrs (2010) und die Zulassung der gleichgeschlechtlichen Ehe (2015).

Die konservative Supermehrheit des Obersten Gerichts will mit Unterstützung der Republikanischen Partei die Entwicklung hin zu einer inklusiveren Demokratie stoppen – und Amerika zurückführen in eine «gottgewollte» hierarchische Ordnung mit dem Weissen Mann als Krone der Schöpfung. Entsprechende Entscheide etwa zum Thema Migration, zum Umweltschutz, zum Arbeitsrecht und zur Verwaltung von indianischem Land sind in Kürze zu erwarten.

Die Reaktion der Demokrat:innen auf die Tyrannei der rechten Minderheit ist im Gegensatz zu jener vieler ausserparlamentarischer Aktivist:innen eher milde. Am hilfreichsten sei es, im nächsten Herbst demokratisch zu wählen, sagte Präsident Biden. Das hat die Mehrheit der US-Amerikaner:innen allerdings schon 2020 getan. Und es hat sich gezeigt, dass sich autokratische Elemente in einer geschwächten Demokratie nicht so einfach wegstimmen – und auch nicht wegdemonstrieren – lassen.