Corona: Lausiger Arbeitsschutz
Die Leute sollten sich am Arbeitsplatz nicht mit Corona anstecken. Nur hapert es mit dem Arbeitsschutz: Die Kantone beschäftigen viel zu wenig InspektorInnen.
Wenn es um Arbeitsschutz geht, sind viele Kantone schlecht aufgestellt. Deshalb müssen nun PolizistInnen tun, was eigentlich die Aufgabe von ArbeitsinspektorInnen wäre: kontrollieren, ob in den Betrieben die Coronaschutzmassnahmen eingehalten werden.
Schon im Juli verlangte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) von den Kantonen, dass sie mehr in den Betrieben kontrollieren sollen. Das BAG bestellte bei den Kantonen eine wöchentliche Statistik. Das fanden die Kantone zum Teil gar gut. Manche klagten, das sei ein Zusatzaufwand, sie müssten die Daten extra manuell auswerten. Der Kanton Zürich publiziert inzwischen als einer der wenigen Kantone regelmässig Zahlen. In der vergangenen Woche hat das Zürcher Arbeitsinspektorat 402 Betriebe kontrolliert und 113 Mängel festgestellt. Es gibt offensichtlich Verbesserungspotenzial.
Laut BAG finden schätzungsweise sieben Prozent der Ansteckungen am Arbeitsplatz statt. Grundsätzlich sei das Risiko, sich direkt während der Arbeit anzustecken, allerdings nicht sehr hoch, sagt Andreas Martens, Arbeitshygieniker und Geschäftsführer des Zentrums für Arbeitsmedizin (AEH) in Zürich. Das AEH hat zahlreiche Schutzkonzepte von Betrieben überprüft. Viele seien gut. «Aber nach der Arbeit stehen dann zum Beispiel alle zusammen im Pausenraum – obwohl in dem Raum nur drei Personen erlaubt wären – und greifen in dieselbe Nüsslischale.» Die Ansteckungen passieren also eher während der Pause, beim gemeinsamen Mittagessen oder wenn man nachher noch ein Bier trinken geht.
Corona legt Mängel offen
Um das Virus ohne Lockdown mittelfristig unter Kontrolle zu halten, wären mehr Kontrollen zwingend und wirksam. «Werden zum Beispiel einige Gärtnereibetriebe kontrolliert, spricht sich das in der Branche sofort herum. Auch die nicht kontrollierten Betriebe werden sofort besser auf die Umsetzung ihrer Schutzkonzepte achten», konstatiert Martens.
Doch mit den Gesundheitsschutzkontrollen hapert es seit langem. Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund sagt, Corona lege jetzt lediglich die Mängel offen, die schon lange bekannt seien. Viele Kantone halten ihre Arbeitsinspektorate unterdotiert. In manchen Kantonen ist nur eine einzige Person für die Inspektionen zuständig. «Wenn diese Person zur Risikogruppe gehört, gibt es niemanden mehr, der kontrollieren könnte», sagt Cirigliano.
Zusammen mit einem Wissenschaftler der Universität Basel hat Cirigliano eine Studie zum Thema verfasst, die demnächst publiziert wird. Das Ergebnis ist frappant: Die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation der Uno, regelt in einer ihrer Konventionen die «Arbeitsaufsicht in Gewerbe und Handel». Die ILO gibt darin unter anderem vor, dass Industrienationen pro 10 000 Arbeitsplätze eineN ArbeitsinspektorIn beschäftigen sollten.
Die Schweiz hat die ILO-Konvention zwar unterzeichnet, hält sich aber überhaupt nicht daran. Nur der Kanton Neuenburg hat ausreichend InspektorInnen angestellt. Im Kanton Thurgau müsste eine Inspektorin, die Vollzeit arbeitet, 60 000 Arbeitsplätze kontrollieren – also sechsmal so viel, wie die ILO vorgibt. In der Schweiz verfügen die InspektorInnen zusammengerechnet gemeinsam über 150 Vollzeitstellen. Um die ILO-Vorgaben zu erfüllen, müssten es – laut Studie – aber 200 mehr sein.*
Suva schliesst Betriebe
Bis Redaktionsschluss konnte der Bund keine Zahlen liefern, welche Kantone wie intensiv kontrollieren. Zahlen gibt es hingegen von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva), die für die Kontrolle von 70 000 Betrieben (vor allem in gefährlichen Branchen wie Bau- oder Forstwirtschaft) zuständig ist. Seit dem Lockdown im März hat sie die Zahl ihrer SicherheitsexpertInnen auf 123 verdoppelt und inzwischen 11 000 der Betriebe überprüft. Wenn gravierend gegen die Schutzkonzepte verstossen wird, schliesst die Suva auch mal temporär einen Betrieb. Im Monat komme das im Schnitt etwa zweimal vor, sagt Suva-Pressesprecher Adrian Vonlanthen der WOZ.
* Korrigendum vom 16. November 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, die InspektorInnen würden zusammengerechnet gemeinsam über 15 Vollzeitstellen verfügen, müssten aber, um die ILO-Vorgaben zu erfüllen, 20 mehr haben. Korrekt ist: Sie verfügen über 150 Vollzeitstellen und müssten 200 mehr haben.