Ja zur Konzernverantwortung: Die lügende Bundesrätin
Irgendwann verschwand ein Wort aus der öffentlichen Debatte: «Lüge». Wenn ein Politiker oder eine Politikerin heute Dinge erzählt, die offensichtlich nicht stimmen, heisst es, dieser oder jene habe die Unwahrheit gesagt. Es ist das schärfste aller möglichen Urteile. Denn Lügen sind schwierig nachzuweisen, und sie tragen einen schweren Vorwurf in sich. Was die beiden Begriffe unterscheidet, ist die Intention dahinter. Wer vorsätzlich das Falsche sagt, lügt; wer falsch liegt, aber glaubt, das Richtige zu sagen, sagt die Unwahrheit.
Als dem ehemaligen Finanzminister Hans-Rudolf Merz vor einigen Jahren die Milliardenausfälle seiner Unternehmenssteuerreform vorgehalten wurden, wehrte sich der FDP-Mann im Parlament: «Ich habe nicht gelogen!» Die Folgen der Reform seien schlicht sehr schwer einzuschätzen gewesen. Das Bundesgericht rügte den Bundesrat damals scharf: Es sei den Stimmberechtigten nicht möglich gewesen, sich eine zuverlässige und sachgerechte Meinung zu bilden, weil jegliche Prognosen zu den Auswirkungen der Reform fehlten. Merz, so viel lässt sich sagen, sagte vor der Abstimmung die Unwahrheit.
Karin Keller-Sutter, Parteigefährtin von Merz, sagt seit Wochen Dinge, die nachweislich falsch sind. Die Justizministerin hat ihre Amtsgeschäfte quasi ruhen lassen, um landauf, landab gegen die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) Stimmung zu machen. Sie erzählt dabei in jedem Interview und an jedem Auftritt dasselbe, als ob durch die stete Wiederholung Wahrheitskraft erwachsen würde. Etwa das Beispiel eines Solothurner Pharmaherstellers, der nach der Annahme der Kovi seine 11 000 Zulieferer überprüfen müsste. Dabei ist in der Initiative klar festgehalten, dass die Haftung nur für Unternehmen gilt, über die eine Schweizer Gesellschaft die wirtschaftliche oder rechtliche Kontrolle ausübt.* Keller-Sutter spricht von 80 000 KMUs, die potenziell betroffen seien, obwohl die Kovi nur für Konzerne und für Firmen, die im Hochrisikosegment geschäften, gelten soll. Sie behauptet, die Kovi würde die Beweislast umkehren, sie sei weltweit einzigartig, würde zu einer Klagewelle vor kleinen Schweizer Bezirksgerichten führen. Nichts davon hält einer Überprüfung stand: Schweizer StaatsrechtlerInnen und ExpertInnen für internationales Recht haben jede einzelne dieser Behauptungen widerlegt.
Keller-Sutter nimmt im Abstimmungskampf um die Kovi keinen Standpunkt in einem hochkomplexen juristischen Feld ein. Sie stützt sich nicht auf schwierige und deshalb streitbare Kalkulationen wie damals Merz. Sie erzählt Sachen, die sich einfach und eindeutig falsifizieren lassen. Sachen, über die sie nicht im falschen Glauben sein kann. Wie anders lassen sich ihre Äusserungen qualifizieren, wenn nicht als Lügen?
Seit dem 1. Januar 2019 ist Karin Keller-Sutter Bundesrätin. Sie ist damit den oft sehr wüsten politischen Auseinandersetzungen ein Stück weit entwachsen. Zumindest würde das der Tradition entsprechen. Bis zur EWR-Abstimmung 1992 hielt sich der Bundesrat mehr oder weniger aus den Abstimmungskämpfen heraus. Die Lehrmeinung war, dass die Meinungsbildung ohne staatliche Einflussnahme erfolgen solle. Seither entfernt sich der Bundesrat immer weiter von diesem Grundsatz. Eine aktivere Rolle ist nichts Schlechtes; der Bundesrat kann heute eine wichtige Instanz sein, wenn er «sachgemäss informiert, die Vor- und Nachteile einer Vorlage darlegt», wie es die ehemalige Bundeskanzlerin Corina Casanova einmal formulierte. Casanova hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, was eine angemessene Behördeninformation ausmacht. Ihr Fazit: «Es ist ein schmaler Grat zwischen erlaubter Information der Stimmberechtigten und politischer Propaganda.» Immer aber gelte das Gebot der Zurückhaltung. Dieses Gebot hat Keller-Sutter verletzt. Von den Vorteilen der Initiative sprach sie nie. Und sachlich können Informationen, die falsch sind, sowieso nicht sein.
Befragungen zeigen, dass die Schweizer Bevölkerung ihrer Regierung nie so fest vertraute wie im Jahr 2020. Es ist dieses Kapital, das die Justizministerin einsetzt, wenn sie gegen die Kovi polemisiert. Und es ist das Kapital, das sie dabei verspielt.
* Korrigendum vom 26. November 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion heisst es, dass die Sorgfaltspflicht nur für Unternehmen gilt, über die eine Schweizer Gesellschaft die wirtschaftliche oder rechtliche Kontrolle ausübt. Diese soll aber für sämtliche Geschäftsbeziehungen gelten.