Ausser Rand und Band: Die BRKKS-Protokolle

Nr. 49 –

Interne Dokumente zeigen, wie Karin Keller-Sutter ihre Kampagne gegen die Konzernverantwortung führte. Diese widersprach dem verfassungsmässigen Recht der Bürger:innen auf freie Willensbildung.

Kollage: Auszüge aus Sitzungsprotokollen und dem EJPD-Kommunikationskonzept zur Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative
Auszüge aus Sitzungsprotokollen und dem EJPD-Kommunikationskonzept zur Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative. Foto: Uwe Lein, Keystone

Es ist der 23. Oktober 2020, und im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) geht es zu wie in einer Kampagnenagentur. Die Arbeitsgruppe zur Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) trifft sich online zu ihrer vierten Sitzung im Abstimmungskampf. «In der CVP gibt es einen Basis-Elite-Konflikt. Ausserdem sind Parteiungebundene und Frauen wichtig. Auch das Land, die Agglomeration muss überzeugt werden», referiert Christoph Nufer, damals Kommunikationschef im Departement.

Für die Überzeugungsarbeit als besonders geeignet erscheinen Auftritte von Bundesrätin Karin Keller-Sutter in einzelnen Kantonen. «Auftritte geben immer auch Medienbegleitung, das ist wichtig», betont Martin Dumermuth, der Direktor des Bundesamts für Justiz. Auch die Pressekonferenz eines Wirtschaftskomitees steht für die kommende Woche auf der Agenda. Ein früheres Hintergrundgespräch von Economiesuisse mit Journalist:innen sei «unfähig» und «alarmistisch» gewesen, weiss Keller-Sutters persönliche Mitarbeiterin Heidi Gmür. «Das darf sich nicht wiederholen, und das müsste man ihnen noch einmal sagen.» So steht es im Protokoll zur Sitzung, das der WOZ exklusiv vorliegt.

Die Abstimmung über die Initiative, die Konzerne zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards verpflichten wollte, war eine der emotionalsten der letzten Jahre. Eine grosse Allianz aus der Zivilgesellschaft stand damals mit orangen Fahnen den Wirtschaftsverbänden und den bürgerlichen Parteien gegenüber. Und einer Bundesrätin: Karin Keller-Sutter. Die Abstimmung endete äusserst knapp: Zwar nahm die Bevölkerung das Anliegen mit 50,7 Prozent an, doch die Initiative scheiterte schliesslich am Ständemehr der kleineren, konservativen Kantone.

Weil sich Keller-Sutter derart vehement gegen die Kovi engagierte – «Das sind Trump-Methoden!» (Alt-FDP-Ständerat Dick Marty) –, wurde sie später Teil einer Untersuchung: Die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrats beurteilte anhand von vier Abstimmungsvorlagen die bundesrätliche Kommunikation. Vorletzte Woche hat das Gremium seinen Bericht veröffentlicht. Bei einer der Vorlagen und an einer Bundesrätin übt es für Schweizer Verhältnisse ungewohnt harsche Kritik: bei der Kovi, an Karin Keller-Sutter.

Die Bundesrätin habe die Stimmberechtigten nicht verhältnismässig informiert, sondern versucht, einen «Meinungsumschwung beim Zielpublikum» zu erwirken. «Die Kommunikation überschritt somit die Grenze zwischen Information und Kampagne», so das Fazit der GPK. Kampagne – das Wort ist in diesem Zusammenhang ein heftiger Vorwurf: Die Bundesverfassung schützt das Recht auf freie Willensbildung. Der Bundesrat muss über Abstimmungsvorlagen sachlich und verhältnismässig informieren. Eine Checkliste der Bundeskanzlei verbietet es explizit, Kampagnen zu führen – und sich an Kampagnen anderer zu beteiligen.

Auf Grundlage des Öffentlichkeitsgesetzes hat die WOZ die Dokumente eingefordert, die dem GPK-Bericht zugrunde liegen, dort aber lediglich summarisch zitiert werden. Sie ermöglichen einen einmaligen Einblick in den Regierungs-PR-Apparat, der in den letzten Jahren enorm gewachsen ist. Sie zeigen, wie Keller-Sutter mit ihrem Stab versuchte, die Meinung in der Bevölkerung und in den Medien gegen die Kovi zu drehen. Und sie belegen die äusserst enge Zusammenarbeit des Departements mit den Wirtschaftsverbänden.

CVP-Kantone im Visier

Die Grundlage für die Kampagne von «BRKKS» – so wird Keller-Sutter in den Dokumenten abkürzend genannt – bildet ein Kommunikationskonzept von Christoph Nufer vom September 2020. Der smarte einstige Leiter der SRF-Bundeshausredaktion gehört zu den zahlreichen Journalist:innen, die irgendwann in die PR-Branche wechseln: 2020 ernannte Keller-Sutter ihn zum Kommunikationschef. Heute ist Nufer Partner im Beratungsbüro Dynamics.

Sein Konzept für den Abstimmungskampf umfasst siebzehn Seiten, inklusive namentlicher Auflistung von Befürworter:innen und Gegner:innen der Initiative aus Politik, Kirchen, Wissenschaft. Statt eine sachliche Information der Bevölkerung zu skizzieren, wird darin eine einseitige Kampagne orchestriert, um die Stimmberechtigten von Keller-Sutters Gegenvorschlag zur Initiative zu überzeugen. Diese fügt sich denn auch eng in andere Kampagnen gegen das Anliegen ein, wie ein von Economiesuisse erstelltes Schaubild im Konzeptpapier zeigt.

In der Kommunikation herrscht eine Art Arbeitsteilung: Während sich die «Überparteiliche Nein-Allianz» unter Führung des Wirtschaftsverbands auf klassische Kampagneninstrumente fokussiert, plant die liberale Werbeorganisation «SuccéSuisse» eine «stammtischtaugliche Fachkampagne». Das Engagement des Bundesrats soll «ergänzend» dazu wirken. BRKKS erhält die Aufgabe, für den indirekten Gegenvorschlag als die «konstruktive, vernünftige und schweizerische Antwort» zu werben. Dieser beschränkt die Konzernverantwortung auf das Verfassen von Transparenzberichten.

«Der Abstimmungskampf für die Wirtschaft und für BRKKS wird schwierig», heisst es im Papier. Das grösste Problem ortet der PR-Stab dabei bei der CVP: Deren Wähler:innen stünden unter dem Einfluss der Kirche, die sich stark für die Kovi engagiere. Die Zustimmung sei in den letzten drei Jahren von 45 auf 69 Prozent gestiegen, heisst es fett markiert. Dieser Wert müsse stark runter, «sonst wird die Initiative angenommen». Als Folgerung werden Auftritte der Bundesrätin in sogenannten C-Kantonen geplant – sprich in Kantonen, in denen die CVP stark ist. «Gut wären vier Auftritte.» Trotz der grassierenden Coronapandemie werden sie im Wochentakt realisiert.

In St. Gallen, wo mit Markus Büchel ein Bischof residiert, der im Papier namentlich als Kovi-Unterstützer genannt wird, weibelt Keller-Sutter Anfang November 2020 in der Moststube der Olma gegen die Initiative, Medienpartnerschaft mit dem «St. Galler Tagblatt» inklusive. Ähnliches macht sie in der Innerschweiz am 9. November auf einem Panel der lokalen Industrie- und Handelskammer im Verkehrshaus in Luzern. «Die Initiative schafft mehr Probleme, als sie löst», zitiert die «Urner Zeitung» die Bundesrätin. Eine Woche später folgt eine Veranstaltung im ebenfalls katholisch geprägten Fribourg. Auch im Kanton Solothurn tritt Keller-Sutter auf, und auch hier berichtet die Regionalzeitung über den «Stargast».

Als zweiten Knackpunkt macht das Konzept einen Streit zwischen dem Gewerbeverband und Economiesuisse aus. Das Gewerbe fühlt sich während der Coronakrise von den Konzernen im Stich gelassen und will nicht für diese einstehen. «SGV ist hässig auf Economiesuisse», heisst es im Papier. Der Streit sei in der Öffentlichkeit schädlich. «Dieser müsste beigelegt werden.» Karin Keller-Sutter nimmt das Gewerbe in die Verantwortung, indem sie an der Auftaktsmedienkonferenz flugs eine Zahl aus dem Hut zaubert: 80 000 Unternehmen, also auch die KMUs, seien von der Kovi betroffen, behauptet sie. Die Befürworter:innen werden sie deswegen als «Lügnerin» bezeichnen.

Nur der ursprünglich geplante Aufbau eines Personennetzwerks wird von der Arbeitsgruppe nicht weiterverfolgt – die Kampagne in den Kantonen und für das Gewerbe rollt schliesslich.

Mutter Keller-Sutter

Für die Kampagne betreibt das EJPD einen beträchtlichen Personalaufwand: Zwölf Mitglieder hat die Arbeitsgruppe, die das Konzept umsetzt, darunter auch Fachleute aus dem Bundesamt für Justiz. «Die Zusammenarbeit funktioniert super, einen grossen Dank!», wird Kommunikationschef Nufer in einem Protokoll zitiert. Auch der Austausch mit den Wirtschaftsverbänden ist eng: So liefert Economiesuisse die Zahlen einer nichtöffentlichen Umfrage, die sie in Auftrag gegeben hatte. Ein externer Berater, nennen wir ihn Mister X, erteilt verschiedene Ratschläge, insbesondere zu den Problemfeldern von CVP und Gewerbe. Sein Name wurde bei der Herausgabe des Kommunikationskonzepts geschwärzt, weil er nicht zur Bundesverwaltung gehört: Mutmasslich handelt es sich um den Mitarbeiter eines Wirtschaftsverbands.

Die Kampagne setzt damit fort, was bereits bei der Beratung der Initiative im Parlament der Fall war: Wie frühere Recherchen der WOZ und eines SRF-Podcasts zum «Lobbyland Schweiz» gezeigt haben, entstand Keller-Sutters Gegenvorschlag auf Anregung von Swiss Holdings, dem Dachverband der multinationalen Konzerne (siehe WOZ Nr. 11/20). Im Abstimmungskampf versucht das EJPD allerdings, den Eindruck zu vermeiden, es werde mit Informationen gefüttert. «Bei der Speaking Note für den Freitag hört man zu sehr Swissholding raus», heisst es an einer besonders hübschen Stelle im Protokoll der vierten Sitzung.

Doch manchmal passiert es eben doch: So empfiehlt Mister X, Karin Keller-Sutter solle auf die von Economiesuisse in der Umfrage getesteten Argumente bauen – und nicht etwa auf eine korrekte Information der Stimmberechtigten. Das beliebteste Argument in der Umfrage laute, die Kovi sei ein «Hochrisikoexperiment». Den Ratschlag setzt Keller-Sutter in der SRF-«Arena» vom 30. Oktober 2020 dann auch praktisch wörtlich um: «Wir sind in einer Rezession, in einer schwierigen, weltweiten Wirtschaftskrise. Wir setzen in einer solchen Situation auf bewährtes Recht – und nicht auf Experimente.»

Ein von Economiesuisse getestetes Argument gelangt in alle Fernsehhaushalte der Schweiz, amtlich bestätigt von einer Bundesrätin: Mehr Kampagnenverzahnung zwischen Verbänden und Regierung geht kaum.

Die Arbeitsgruppe kümmert sich aber nicht nur um Argumente und Auftritte von Keller-Sutter – sie legt auch ihren Stil fest. Das Setting im Abstimmungskampf sei Moral gegen ökonomische Rationalität, heisst es in einem weiteren Protokoll. «Bei dieser Ausgangslage bietet sich das Bild der idealistischen Tochter an, die der vernünftigen Mutter gegenübersteht.» Die Bundesrätin solle auf die emotionalen Argumente eingehen, aber «sachlich und kühl argumentieren (rationale Mutter)». Dass die Unterstützer:innen der Initiative bloss idealistische Kinder sind: Das Bild sagt viel über das elitär-herablassende Verständnis des Stabs von BRKKS.

Am Ende aber entfaltet die Kampagne am Boden, in den Kantonen ihre Wirkung: Im Protokoll der letzten AG-Sitzung vor der Abstimmung heisst es: «Ein Scheitern der Initiative am Ständemehr ist möglich. Linie halten und abwarten.» Am Ende stimmen die von Keller-Sutter besuchten Kantone St. Gallen, Luzern und Solothurn Nein, nur Fribourg stimmt mit Ja.

Grüne empfehlen Abwahl

Markus Schefer gehört zu den renommiertesten Staatsrechtler:innen der Schweiz. Schon während des Abstimmungskampfs hatte er zusammen mit Kolleg:innen in einem Gastbeitrag in der NZZ kritisiert, gewisse Äusserungen der Justizministerin hätten den Boden der rechtlichen Analyse verlassen. Die Ergebnisse der GPK-Untersuchung sowie die der WOZ vorliegenden Dokumente sieht er als Bestätigung seiner damaligen Kritik: «Eine klar auf den Abstimmungssieg ausgerichtete Kampagne, wie sie hier sichtbar wird, widerspricht der Grundidee des Verfassungsartikels für das Recht auf eine freie Willensbildung vor Wahlen und Abstimmungen.»

Der Bundesrat solle zu Abstimmungen sachlich informieren, er dürfe dabei auch eine klare Empfehlung abgeben. «Doch das Für und Wider soll von der Zivilgesellschaft ausgefochten werden, von Parteien, Verbänden oder Gewerkschaften», sagt Schefer. Die Regierung habe bei Abstimmungen eine sekundäre Rolle zu spielen. «Sie darf nicht zu einer weiteren Kampagnenorganisation werden.» Das Beispiel der bundesrätlichen Kampagne zur Konzernverantwortung sei eines unter vielen, wenn auch ein besonders krasses. «Letztlich ist es Ausdruck einer öffentlichen Dynamik, die zunehmend von der Agenda sowohl vonseiten der Behörden wie auch der Medien geleitet wird.» Schefer plädiert stattdessen für eine Rückkehr zum alten Ideal des rationalen Arguments. «Wer, wenn nicht der Bundesrat mit seiner hohen Glaubwürdigkeit, soll es verbreiten?»

Die Allianz für Konzernverantwortung zeigt sich über die Recherche der WOZ empört. Vorstandsmitglied Dominique de Buman kritisiert, dass sich Bundesrätin Keller-Sutter und ihr Departement so stark von der Konzernlobby einspannen liessen. «Wenn man sich die Dokumente anschaut, muss man leider davon ausgehen, dass die Kampagne nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, dass die Initiative das Ständemehr verpasste.» Es sei gut, dass die GPK-Untersuchung nun Licht ins Dunkel gebracht habe. «Wir sind zuversichtlich, dass sich die Bevölkerung bei einer zweiten Abstimmung zum Thema nicht mehr verunsichern lässt.»

Auch im Bundeshaus ist die Kampagne ein Thema. «Sicher gibt es bei der politischen Kommunikation Grauzonen zwischen Weiss und Schwarz», sagt Grünen-Präsident Balthasar Glättli. «Aber was sich Keller-Sutter hier geleistet hat, das ist tiefschwarz.» Es sei nicht einfach bloss ein Schönheitsfehler, ihre Kampagne habe ein Abstimmungsergebnis gekippt. Nächsten Mittwoch wollen die Grünen mit Gerhard Andrey in den Bundesrat gewählt werden. «Wir haben immer gesagt, wir treten nicht einfach gegen Ignazio Cassis an, sondern gegen die Übervertretung der FDP. Mit dieser verfassungswidrigen Einflussnahme hat sich auch Karin Keller-Sutter nicht eben zur Wiederwahl empfohlen.»

Wenig Problembewusstsein ist hingegen bei der heutigen Finanzministerin zu spüren. Der Bundesrat werde zum «gegebenen Zeitpunkt» zur GPK-Untersuchung Stellung nehmen, lässt sie über ihren neuen Sprecher, Pascal Hollenstein, ausrichten. Inhalt und Struktur des Kampagnenkonzepts seien nicht auf Karin Keller-Sutters Anregung hin entstanden. Überhaupt, behauptet der Kommunikationschef: «Dieses wurde nicht angewendet.» Hollenstein war früher auch einmal Journalist. Eine knappe Stunde Recherche in der Mediendatenbank hätte genügt, um herauszufinden, dass alle im Konzept geplanten Auftritte stattgefunden haben, all die vorformulierten Argumente gefallen sind. Karin Keller-Sutter und ihr Stab setzen offenbar weiterhin darauf, dass die Kinder im Land ein bisschen naiv sind.