Pandemiebewältigung: «Frau Meyer, was werfen Sie Economiesuisse vor?»
Wie stark soll das Virus eingedämmt werden? Wie viel Geld muss der Bund für die Wirtschaft bereitstellen? Und wer soll bezahlen? SP-Kopräsidentin Mattea Meyer und Economiesuisse-Chefökonom Rudolf Minsch im Streitgespräch.
WOZ: Frau Meyer, Sie haben kürzlich gesagt, die Schweiz habe in der Coronapandemie die Kosten über die Menschenleben gestellt – auch auf Druck von Economiesuisse. Was werfen Sie Herrn Minsch vor?
Mattea Meyer: Nachdem die erste Welle in der Schweiz relativ glimpflich über die Bühne ging, fordert die zweite Welle nun viele Todesopfer – allein in den letzten vierzehn Tagen waren es über tausend. Die Frage stellt sich, wie es so weit kommen konnte. Auf Druck unter anderem von Economiesuisse hat der Bundesrat im Frühling beschlossen, alles schnell wieder zu öffnen. Wenn der Bund Verbote ausspricht, verstärkt sich der Druck nach Entschädigungen. Das will Economiesuisse verhindern. Denn dort weiss man: Die heutigen Kosten sind die zukünftigen Steuererhöhungen für Konzerne.
Rudolf Minsch: Wir sind der falsche Adressat … Einer der Hauptgründe für das erneute Ansteigen der Fallzahlen war die Zulassung von Grossveranstaltungen im Oktober – diese Lockerung haben wir jedoch nie gefordert. Wir haben stets verlangt, dass die Spitäler nicht überlastet werden dürfen, weil es sonst wieder einen harten Lockdown bräuchte – der wiederum sehr schädlich für die Wirtschaft wäre.
Meyer: Dann haben wir immerhin den Konsens, dass zwischen Gesundheits- und wirtschaftlichen Interessen kein Widerspruch besteht: Die Eindämmung des Virus schützt nicht nur die Gesundheit der Menschen, sie ist auch die beste Hilfe für die Wirtschaft. Darum kritisiere ich, dass der Bundesrat im Frühling ohne Not wirtschaftliche Abfederungsmassnahmen wie die Erwerbsersatzentschädigung nach zwei Monaten bereits wieder gekappt hat. Aus Angst vor Kosten haben auch die Kantone zu wenig gemacht. Sie haben es verpasst, ein effektives Contact Tracing aufzubauen und genug früh gesundheitspolitische Massnahmen zu ergreifen.
Herr Minsch, gibt es da tatsächlich einen Konsens? Besteht auch für Sie die beste Wirtschaftshilfe darin, die Ausbreitung des Virus zu verhindern?
Minsch: Ja, unbedingt. Geraten die Fallzahlen ausser Kontrolle, bringt das nicht nur grosse gesundheitliche Probleme mit sich, sondern riesige volkswirtschaftliche Kosten, weil der Staat dann umso härter einfahren muss. Wirtschaft und Gesundheit sind keine Gegensätze, sie gehen Hand in Hand. Im Frühling haben nicht nur die Unternehmen gelitten, sondern etwa auch Leute im Homeoffice, die gleichzeitig ihre Kinder unterrichten mussten – der psychische Druck war enorm. Was gut für die Gesundheit der Menschen ist, ist auch gut für die Wirtschaft – und umgekehrt.
Meyer: Aber nochmals: Die gesundheitspolitischen Massnahmen müssen durch Kompensationszahlungen begleitet werden. Nicht nur hat der Bundesrat diese nach zwei Monaten wieder gekappt, er hat sich auch geweigert, Vermieter in die Pflicht zu nehmen, um Geschäfte wie Restaurants zu entlasten. Und eben hat die bürgerliche Parlamentsmehrheit ein entsprechendes Gesetz versenkt. Das alles führt dazu, dass Menschen aus Existenznot anfangen, das Virus zu verharmlosen. Für die Bekämpfung der Pandemie ist das Gift.
Minsch: Wichtig für die Akzeptanz der Massnahmen ist vor allem, dass sie verständlich und nachvollziehbar sind. Und da hat man in der Schweiz nicht immer einen guten Job gemacht.
Herr Minsch, nebst dem grundsätzlichen Konsens über die Pandemieeindämmung kritisiert Frau Meyer die Lockerungen vom Frühling und fordert mehr Geld …
Minsch: Wir haben uns vor allem im Mai vehement für Lockerungen ausgesprochen, als die Fallzahlen stark gefallen waren. Die Wirtschaft und die Menschen brauchten dringend wieder eine Perspektive, da haben wir insistiert. Doch nochmals: Wir haben nie verlangt, dass Grossveranstaltungen wieder zugelassen werden. Es war klar, dass mit den Ferienrückkehrern und der Öffnung von Discos die Fallzahlen wieder steigen werden.
Meyer: Wir müssen jetzt vor allem in die Zukunft blicken, damit es nicht zu einer dritten und vierten Welle kommt. Dafür müssen die Behörden ein Ampelsystem einrichten, mit dem automatisch gesundheitspolitische Massnahmen einsetzen, sobald bestimmte Schwellen bei Infektionsraten und Hospitalisierungen überschritten werden. Zudem braucht es ein professionelles Contact Tracing und eine Entlastung des Gesundheitspersonals in Spitälern und Altersheimen, das komplett erschöpft ist.
Minsch: Vor allem in der Westschweiz war die Belastung für das Gesundheitspersonal tatsächlich gross – jetzt nimmt sie allerdings wieder etwas ab. Was das Ampelsystem betrifft, vertritt Economiesuisse eine ähnliche Position wie die SP. Wir fordern seit dem Sommer, dass der Bundesrat eine Pandemieplanung macht. Er hat das nicht getan, obwohl klar war, dass es zu einer zweiten Welle kommen würde. Das ist eine Unterlassungssünde. Es braucht endlich einen Plan für die kommenden Monate. Wir sollten nicht nur die nächsten Tage betrachten, sondern die nächsten Monate, bis Impfstoffe breit verfügbar sind. Zudem fordern auch wir eine Stärkung des Contact Tracing.
Sie haben in «20 Minuten» bereits wieder Lockerungen gefordert.
Minsch: Das hat die Zeitung falsch berichtet. Die Frage war, für welche Lockerungen ich mich aussprechen würde, wenn die Fallzahlen wieder sehr tief wären. Solche Lockerungen wären heute verfrüht. Ich bin überzeugt, dass es den ganzen Winter über Massnahmen brauchen wird.
Frau Meyer, Sie verlangen grosszügige Entschädigungsmassnahmen für Betriebe und Angestellte. Braucht es noch mehr als heute?
Meyer: Ja, es geht darum, Existenzen zu sichern, Kaufkraft zu erhalten, Konkurse zu verhindern und die Konjunktur zu stabilisieren. Die Massnahmen müssen vereinheitlicht werden, um Lücken zu schliessen. Zudem bräuchte es weiterhin einen Teilmieterlass für Geschäftsinhaber, und schliesslich muss die Kurzarbeitsentschädigung für Leute mit tiefen Löhne erhöht werden, damit alle mindestens 4000 Franken erhalten. Und schliesslich gibt es Lücken etwa bei den Sexarbeiterinnen, die gar keinen Zugang zu Leistungen haben.
Minsch: Economiesuisse sieht das etwas anders: Laut Bundesrat haben die meisten Geschäftsmieter eine Vereinbarung getroffen, was auch unserer Einschätzung entspricht. Es gibt immer noch gewisse Probleme, aber Vermieter, die keinen Teilerlass gewähren, schneiden sich ins eigene Fleisch: Sie riskieren, ihren Mieter zu verlieren – ich wünsche ihnen viel Glück, in dieser Zeit einen neuen zu finden. Was wir unterstützen, ist die Härtefallregelung, mit der Betriebe mit einem starken Umsatzrückgang auch À-fonds-perdu-Beiträge erhalten sollen. Schliesslich sollte der Bundesrat im Bedarfsfall auch wieder sein Kreditprogramm auflegen, um die Liquidität der Firmen sicherzustellen. Allerdings wird es in dieser Wirtschaftskrise keine perfekte Abdeckung für alle geben. Einige Unternehmen werden nicht überleben. Es sollen jene Firmen Hilfe erhalten, die auch eine Zukunft haben. Sonst zögert man das Sterben lediglich hinaus.
Sie haben sich auch gegen höhere Kurzarbeitsentschädigungen für Leute mit tiefen Löhnen ausgesprochen …
Minsch: Ja, wegen der negativen Anreize: Etliche Arbeitgeber würden zuerst diese Angestellten in Kurzarbeit schicken, weil ihr Widerstand gering wäre: Die Angestellten erhielten hundert Prozent des Lohns, obwohl sie Kosten fürs Pendeln oder auswärtige Verpflegung einsparen könnten.
Meyer: Es stimmt nicht, dass ein grosser Teil der Geschäftsmieter einen Mieterlass erhalten hat. Wer die Studie des Bundesrats genau liest, wird sehen, dass sechzig Prozent der Mieter keine Lösung gefunden haben. Die Covid-Kredite, die Sie loben, führen zudem nur zu einer Verschuldung des margenschwachen Gewerbes. Wenn kleine Veranstaltungs-, Reise- oder Gastrobetriebe sich verschulden, werden sie Jahre damit zu kämpfen haben und nicht mehr investieren. Das würgt die Wirtschaft ab – À-fonds-perdu-Beiträge sind besser. Unzählige Leute haben mit Herzblut ihr kleines Reisebüro oder ihre Tontechnikerbude aufgebaut und sehen jetzt ihr Lebenswerk kaputtgehen. Wenn sie von Leuten wie Ihnen zu hören bekommen, dass man halt nicht alle retten könne, ist das ein Schlag in ihr Gesicht.
Minsch: Die Schweiz hat ein noch nie da gewesenes Unterstützungsprogramm für die Wirtschaft auf die Beine gestellt – die Kredite wurden rasch gesprochen, Kurzarbeitsgelder schnell ausbezahlt. Da muss man der föderalen Schweiz ein Kränzchen winden.
Meyer: Ich war in den letzten Monaten mit unglaublich vielen Selbstständigen in Kontakt. Die zeichnen ein anderes Bild.
SVP-Finanzminister Ueli Maurer sagt, der Bund habe nicht noch einmal 30 Milliarden, um zu helfen. Wie sieht das Economiesuisse, Herr Minsch?
Minsch: Der Bund hat seit der Einführung der Schuldenbremse vor achtzehn Jahren rund 27 Milliarden Franken an Schulden zurückgezahlt, also ähnlich viel wie die gut 20 Milliarden, die wir in diesem Jahr für die Coronapandemie ausgeben werden. Das ist enorm. Die 20 Milliarden sind in Ordnung, und vielleicht kommen noch ein paar dazu. Wenn wir aber noch mehr ausgeben, ist das nichts anderes als eine Belastung der nächsten Generation. Wir müssen dort helfen, wo es absolut nötig ist – nicht mit der Giesskanne.
Sie sehen es also wie Ueli Maurer?
Minsch: Wir sollten nicht mehr so viel Geld einsetzen wie in der ersten Welle, ja.
Meyer: Die Frage ist nicht, ob wir uns das leisten können. Die Frage ist, wer die Kosten trägt, die ohnehin anfallen: Der Bund mit À-fonds-perdu-Beiträgen, Kurzarbeitsgeld und Erwerbsersatz – mit denen Konkurse und Arbeitslosigkeit verhindert werden? Oder sollen sie von einzelnen Menschen als Folge von Massenkonkursen und Massenarbeitslosigkeit bezahlt werden – für die die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe aufkommen müssen? Im Frühling wurden 60 Milliarden Franken gesprochen, wovon knapp 20 Milliarden aufgebraucht und weitere 17 Milliarden als Kredite vergeben sind – und nun sollen die restlichen 20 Milliarden nicht mehr da sein?
Minsch: Ein grosser Teil der 60 Milliarden waren Kreditgarantien – es war klar, dass es nicht so viel kosten würde.
Meyer: Ja, doch, sie waren budgetiert. Zudem will Maurer etwa die Stempelsteuer auf Wertpapieren abschaffen, was jährlich Milliarden kosten würde. Die Frage ist also: Wollen wir das Geld für das Gewerbe und die Angestellten – oder für Steuersenkungen zugunsten der Eigentümer von Grosskonzernen?
Minsch: Es geht nicht um die Stempelabgabe, sondern um die Standortfähigkeit der Schweiz. Wir brauchen moderate Steuersätze, um die Unternehmen hier zu halten: Sie haben in den vergangenen Jahren viel Steuergeld abgeliefert, was auch den Schuldenabbau ermöglicht hat. Die Firmen brauchen auch Geld zum Investieren. Man sollte sie nicht kasteien.
Meyer: Die Konzerne liefern gemessen an ihren Gewinnen seit Jahren immer weniger Steuern ab. Und die Innovations- und Investitionsfreudigkeit, die Sie loben, ist kaum gestiegen. Was gestiegen ist, sind die Dividenden und Aktienrückkäufe zugunsten der Eigentümer.
Minsch: Die Schweizer Firmen haben im letzten Jahr 15 Milliarden Franken für Forschung und Entwicklung ausgegeben – weil der Standort attraktiv ist.
Meyer: Und das Vermögen der 300 reichsten Schweizer ist im letzten Jahr um 5 Milliarden Franken gestiegen. Es ist ein Fakt, dass ein Grossteil der Konzerngewinne an die Aktionärinnen und Aktionäre fliesst und nicht in Forschung und Innovation. Die Schweiz hat rekordtiefe Unternehmenssteuern. Jene, die in dieser Krise Profit gemacht haben, wie die Pharmakonzerne, sollen jetzt einen Beitrag leisten.
Minsch: Das tun sie ja auch. Jene, die 2020 Gewinn machen, werden Steuern bezahlen. Und sie investieren und schaffen damit Arbeitsplätze – das ist genau das, was wir in der jetzigen Krise brauchen. Wenn Sie die erfolgreichen Rennpferde auch noch zurückbinden, ist das keine clevere Strategie für den Standort Schweiz im internationalen Wettbewerb.
Meyer: Ich will verhindern, was derzeit etwa in Winterthur passiert. Mangels Alternativen wird der Steuerfuss für alle angehoben. Stattdessen sollen schweizweit jene höher besteuert werden, die in den letzten Jahren entlastet wurden und in der Krise Profit machen. Neben der Konjunkturforschungsstelle der Uni Zürich fordert etwa auch der Internationale Währungsfonds höhere Gewinnsteuern.
Minsch: Die USA können ihre Firmen und Bürger auf der ganzen Welt dazu zwingen, Steuern zu zahlen. Wenn die Schweiz die Steuern erhöht, dann ziehen einige Unternehmen einfach weg. Nicht alle, aber einige. Die sind hochmobil. Dann sind die Steuereinnahmen weg.
Meyer: Diese Erpressungsstrategie kennen wir langsam in- und auswendig, sie kommt vor jedem Abstimmungskampf. Wir leben in einer Demokratie, da legen die Bürgerinnen und Bürger die Spielregeln fest. Gleichzeitig glaube ich, dass es tatsächlich eine internationale Steuerharmonisierung braucht, wie sie die OECD jetzt diskutiert, damit Konzerne die Länder nicht gegeneinander ausspielen können.
Herr Minsch, ein Bekenntnis zur Steuerharmonisierung …?
Minsch: Vor dem Hintergrund, dass Firmen wie Apple kaum Steuern zahlen, ist die Forderung nachvollziehbar. Mittlerweile ist es eher eine politische Frage: Hochsteuerländer wollen ein grösseres Stück des Steuerkuchens ergattern, zulasten kleinerer Länder wie der Schweiz …
… die bisher ein sehr grosses Stück davon erhält.
Minsch: Auch, ja – es gibt aber auch andere Länder, die viel erhalten.
Meyer und Minsch
Mattea Meyer (33) ist Zürcher SP-Nationalrätin und seit letztem Oktober Kopräsidentin der SP Schweiz. Sie hat Geschichte, Geografie und Politikwissenschaften studiert und wohnt in Winterthur.
Rudolf Minsch (53) ist Chefökonom und stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsleitung des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. Er war zuvor Wirtschaftsprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur und wohnt in Klosters.