Autoindustrie: Aus dem Schichtbetrieb zur Klimademo

Nr. 50 –

Die Anliegen der Beschäftigten in der Industrie und jene der Klimabewegung gelten oft als unvereinbar. Cedric Büchling, VW-Mitarbeiter und Klimaaktivist, bringt sie zusammen.

Cedric Büchling: «Meine Kollegen bei VW würden auch Busse fahren oder Strassenbahnen produzieren.» Foto: Martin Sehmisch

22 Uhr an der Strassenbahnhaltestelle «VW-Werk» in Kassel-Baunatal: Es ist dunkel, kalt und nass. Die letzten paar Hundert Meter zum Werkstor geht Cedric Büchling zu Fuss. Der 24-jährige Aktivist von Fridays for Future (FFF)arbeitet im Dreischichtbetrieb bei Deutschlands grösstem Autobauer, doch den eigenen Pkw hat er vor einiger Zeit abgeschafft. Zwar baut VW in Kassel mittlerweile vor allem Elektroautos, aber Büchling tritt für den grundlegenden Umbau des Verkehrsmodells ein. Mit neuen Antriebstechnologien allein sei Klimaneutralität nicht zu schaffen.

Und weil Büchling der Ansicht ist, dass Reden und Handeln zueinander passen sollten, hat er jetzt gar kein Auto mehr. «Ist nicht immer einfach. Neulich wurde bei den Verkehrsbetrieben gestreikt. Da musste ich mich von einem Kollegen mitnehmen lassen, und der hat sofort gefeixt: Ich solle mir gefälligst ein eigenes Auto kaufen.» Büchling lacht.

Wenn man am späten Abend vor der Fabrik steht, merkt man aber auch schnell, dass die täglichen Strassenbahnfahrten das geringste Problem sind. Die Gesichter der auf das Werkstor zuströmenden Beschäftigten zeugen davon, dass Schichtarbeit an die Substanz geht. «Das Stressigste ist, dass sich der Schlafrhythmus ständig verschiebt», erzählt Büchling. «Diese Woche arbeite ich nachts, nächste Woche ab 14 Uhr, eine Woche später ab 6 Uhr. Das geht aufs Immunsystem. Als ich angefangen habe, wurde ich sofort erst mal krank.»

Studien belegen neben Schlafstörungen und psychischen Belastungen auch eine stark erhöhte Anfälligkeit für Kreislauf- und Krebserkrankungen. Dazu kommt der Wegfall sozialer Beziehungen. Doch trotz der Strapazen sind die Jobs bei VW sehr gefragt. «Das Schmerzensgeld stimmt», erklärt Büchling. Fast 4000 Euro brutto verdienten die Beschäftigten im Schichtbetrieb. Mit Wochenendzulagen sei es sogar noch ein ganzes Stück mehr – in Deutschland bekommen viele HochschulabsolventInnen deutlich weniger.

Feilen, feilen, feilen …

Doch der Lohn sei für ihn nicht ausschlaggebend gewesen, fügt der junge Klimaaktivist hinzu. «Ich habe nach der Schule eine Weile in Sozialprojekten als Freiwilliger gearbeitet, ein Semester Jura studiert und mir dann überlegt, dass ich für die Gewerkschaft arbeiten will. Mein Vater ist Betriebsrat bei VW, meine Mutter bei der IG Metall.» So habe er eine dreijährige Ausbildung zum Mechatroniker bei VW angefangen. «Wenn man hauptamtlich Gewerkschafter werden will, sollte man auch wissen, wovon man spricht.» Deshalb arbeitet Büchling jetzt erst einmal im Dreischichtbetrieb. Er blickt auf die Uhr, 22.10 Uhr. «Ich muss rein.»

Für ein längeres Gespräch am nächsten Abend schlägt Büchling die Kneipe Bei Ali vor. Auch das sagt einiges über den FFF-Aktivisten aus. Im von Einfamilienhäusern geprägten Kassel ist die arme und migrantisch dominierte Nordstadt so etwas wie die Schmuddelecke. Nur eine Strasse entfernt liegt das Internetcafé, in dem der Nationalsozialistische Untergrund 2006 einen seiner Mordanschläge verübte. Und «Bei Ali» ist genau von der Art Läden, gegen die sich der rechtsextreme Terror richtete. Von aussen wirkt die schmucklose Kneipe wie ein Kiosk, drinnen dominieren Fussball und Politik. An den Wänden hängen Schals von Schalke und St. Pauli oder Plakate der prokurdischen Linkspartei HDP.

Auf die Frage, wie er zu Fridays for Future gekommen sei, antwortet Büchling, dass er die Umweltbewegung erst relativ spät für sich entdeckt habe. «Als Jugendlicher bin ich erst einmal in die Kirche eingetreten. Das war so was wie eine Rebellion gegen meine Eltern – ich komme ja aus einer Gewerkschafterfamilie.» Über die Kirche habe er ein freiwilliges soziales Jahr gemacht, einen Pfarrer aus Kamerun kennengelernt und sei dann nach Westafrika gegangen, um in einer Schule zu unterrichten. «In dem Jahr bin ich zehnmal an Malaria erkrankt.»

Warum hat er den Freiwilligeneinsatz nicht gleich abgebrochen? Büchling winkt ab: «Ich habe immer gemerkt, wenn die Malaria kam. Ausserdem waren wir ziemlich privilegiert. Mit unserer Versicherung konnten wir in gute Krankenhäuser.» Zurück in Deutschland, habe er sich dann von der Kirche weg entwickelt – und sich der Gewerkschaft verschrieben. Nach einem Semester Studium begann er die Ausbildung bei VW. «Am schwersten», erinnert er sich, «war am Anfang das Feilen. Wir mussten drei Monate lang nur feilen.»

Neue Bündnisse

Parallel dazu engagierte er sich bei der IG Metall, sei aber schnell genervt von den verkrusteten Strukturen der Industriegewerkschaft gewesen. Und so habe er, als die Klimabewegung die Schulen erfasste, Fridays for Future als politischen Ort für sich entdeckt. «Als Berufsschüler konnte ich allerdings nicht einfach mitstreiken.» Er gründete die Strategie-AG von FFF und kümmert sich um den Aufbau von Bündnissen zwischen Klimabewegung und Gewerkschaften.

Büchling bringt in seiner Person etwas zusammen, das in der politischen Debatte oft als unvereinbar gilt: die Anliegen von Beschäftigten und der Umweltbewegung. Bei den Blockaden im Kohletagebau kam es in den letzten Jahren immer wieder zu heftigem Streit zwischen AktivistInnen von Ende Gelände und den Kohlearbeitern. Fühlten sich die VW-KollegInnen nicht auch von den FFF-Aktionen provoziert?

Büchling ist sofort hellwach. «Genau das müssen wir unbedingt verhindern: dass Kollegen eine Aktion als Angriff auf sich verstehen. Die Ausgangssituation ist aber auch anders. Bei der Kohle ist klar, dass die Interessen richtig in Widerspruch zueinander stehen. Bei der Automobilindustrie muss das nicht so sein. Die Klimabewegung will ja nicht, dass es gar keine Mobilität mehr gibt, sondern dass sich das Modell verändert. Und dafür brauchen wir einen Umbau der Industrie.»

In der deutschen Umweltbewegung wurden Gewerkschaften bislang als Bremser oder sogar als Gegner kritisiert. Erst seit kurzem bemühen sich einige Gruppen gezielt um Bündnisse mit den Gewerkschaften – vor allem für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und für eine bessere Bezahlung von BusfahrerInnen. Für Büchling ist das erst der Anfang: «Ich glaube nicht, dass meine Kollegen scharf darauf sind, im Schichtbetrieb Autos zu bauen. Die würden auch Busse fahren oder Strassenbahnen produzieren. Das Problem ist, dass in der Automobilindustrie durch die Macht der Gewerkschaften gute Löhne und soziale Rechte erkämpft wurden. Und das wollen die Leute verständlicherweise nicht verlieren.»

Der Produzentenstolz

Aus Büchlings Sicht eröffnet der Umbau der Industrie aber auch eine demokratische Chance – denn in einer ökologischen Transformation könnte die Gesellschaft überlegen, was, wie und wozu sie produziert. «Bei uns im Betrieb gibt es diesen Produzentenstolz. Man findet es gut, hochwertige Technik zu produzieren. Im Dieselskandal hat das einen Knick bekommen, weil man das Gefühl hatte, die Kunden beschissen zu haben. Aber die Coronakrise hat auch eine neue Perspektive eröffnet: Das war schon beeindruckend, wie schnell manche Autobetriebe auf die Produktion von Medizingeräten umgestellt haben.»

Wieder blitzen die Augen des Klimaaktivisten auf. Ob man schon einmal davon gehört habe, dass es bei VW früher konkrete Konversionspläne gab? «Im Kalten Krieg. Es ging darum, die Montagebänder innerhalb von vier Wochen auf die Rüstungsproduktion umzustellen. Wenn man Panzer bauen kann, dann sind auch Strassenbahnen und Lastenräder möglich. Und für so ein Verkehrsmodell braucht man auch neue Jobs.»

Büchling isst sein abendliches Mittagessen auf, ein Pastagericht von der Tageskarte, und blickt aufs Handy. Über die Chatgruppen von FFF flattern unablässig Nachrichten herein. Aber jetzt interessiert ihn die Uhrzeit. In achtzig Minuten fängt seine Nachtschicht an. Zeit für ihn, zur Strassenbahn zu gehen.

Klimabewegung und Gewerkschaften : Im Mai kommt es zum grossen Streik

Schon lange arbeitet die Klimastreikbewegung in der Schweiz daran, ihre Basis auszuweiten und viel stärker als bisher auch Arbeiterinnen und Bauern, Angestellte und RentnerInnen einzubeziehen. Der in diesem Zusammenhang geplante «Strike for Future» musste vor einem halben Jahr wegen der Coronapandemie abgesagt werden. Nun wird er am 21. Mai 2021 stattfinden. An diesem Aktionstag sollen Schulen und Betriebe bestreikt und «der Kampf für eine soziale ökologische Zukunft» auf die Strasse getragen werden. Neu am «Strike for Future» ist die Beteiligung der Gewerkschaften. Gelingt es ihnen, einen substanziellen Teil ihrer Mitglieder zu mobilisieren, verstärkt das den Druck auf die Politik, mehr als ein lahmes CO2-Gesetz gegen die Klimakrise zu beschliessen.

An einer Medienkonferenz letzte Woche sagte Unia-Gewerkschafterin Peppina Beeli: «Ökologische und soziale Krisen haben gemeinsame Ursachen, und sie verlangen in der Konsequenz nach kombinierten Lösungen.» Die Unia fordere daher Klimaschutzmassnahmen, die nicht zulasten der Arbeitenden und der sozial Schwachen gehen dürften. Im Gegenteil: Sie sollten «die Umverteilung von den Begüterten zu den weniger Begüterten begünstigen». Der ökologische Umbau berge ein «enormes Jobpotenzial». Die Politik müsse die Weichen richtig stellen. Wo Arbeitsplätze durch den Umbau bedroht seien, brauche es «Qualifikationsoffensiven» und eine Garantie, dass die Transformation niemanden zurücklasse. Léa Ziegler von der Gewerkschaft VPOD betonte, der Umbau müsse zu einer Stärkung des Service public führen, bei dem «sozial nützliche Arbeitsstellen» geschaffen werden.

Um die Bewegung breit abzustützen, initiieren die OrganisatorInnen des «Strike for Future» auch erneut die Idee von Klimaversammlungen. An möglichst vielen Orten sollen am 17. Januar Menschen jeglichen Alters und aller möglichen Hintergründe zusammenkommen, um über die Klimakrise und die Auswirkungen auf ihr Leben zu sprechen.

Daniel Stern

Wer selber eine Klimaversammlung organisieren will, kann dazu am 12. Dezember an einem Webinar teilnehmen. www.strikeforfuture.ch