Corona-dokumentation: Allzu bequeme Kritik

Nr. 50 –

Fast eine halbe Million Mal wurde Reto Brennwalds Film «Unerhört!» bislang gestreamt. In seiner Abrechnung mit der Coronapolitik macht es sich der frühere «Arena»-Moderator allerdings sehr einfach.

Gewollt tendenziös: Reto Brennwald an einer Diskussion zu seinem Film «Unerhört» in Zürich. Foto: Ennio Leanza, Keystone

Die Pandemie hat nicht nur unseren Alltag auf den Kopf gestellt, sie hat auch dem Genre des Coronablockbusters den Weg bereitet. In Frankreich sorgte kürzlich der millionenfach gestreamte Film «Hold-up» für Aufsehen: eine Pseudodokumentation, in der Bill Gates einmal mehr finstere Absichten unterstellt werden und von einem «Holocaust» die Rede ist, durch den der ärmere Teil der Weltbevölkerung «eliminiert» werden solle.

Solche Abstrusitäten finden sich in Reto Brennwalds Coronahit «Unerhört!», der bald die Schwelle von einer halben Million Aufrufen überschreiten dürfte, nicht. Gleichwohl ist der Film des ehemaligen «Arena»-Moderators durch und durch tendenziös. Die Einseitigkeit ist gewollt, der Titel zeigt es an: Hier sollen Stimmen zu Wort kommen, die man bislang ignoriert habe. Der massnahmen- und medienkritische Spin des Films war schon vor Wochen schräg, die Verschärfung des Infektionsgeschehens seit Herbstbeginn, die selbst das viel zitierte Schweden nun veranlasste, unter anderem Schulen zu schliessen, hat Brennwald keine neuen Argumente geliefert. Im Gegenteil.

In der Summe läuft sein Film auf drei Kernthesen hinaus: Erstens hätten «die» Medien über Corona hysterisch berichtet und diejenigen, die die Aufregung als unverhältnismässig kritisierten, diffamiert. Zweitens sei der Entscheid zum Lockdown im Frühjahr zweifelhaft gewesen. Und drittens habe diese Politik enorme Kollateralschäden verursacht. Die Medienschelte ist dabei das Leitmotiv. Zu Beginn sind Fernsehausschnitte aus dem Frühjahr zu sehen (Börsen in Panik, Armee im Einsatz), unterlegt mit dramatischer Musik. Dies wird kontrastiert mit Szenen aus dem Land im Stillstand – und Brennwald fragt aus dem Off: «Was hat es gebracht? Was hat es zerstört? Wie wurden wir informiert? Wie wurde diskutiert?»

Diffus bleibende Anklage

Die beiden Mediziner Antoine Chaix und Pietro Vernazza erinnern dann an die Bilder aus Norditalien, etwa an die Leichen abtransportierenden Militärkolonnen – so etwas kannte man bis dahin eher aus Ebolakrisengebieten. Mit der reisserischen Berichterstattung sei aber, sind sich Vernazza und Chaix einig, die Gefährlichkeit des Virus dramatisiert worden. Allerdings konstatiert Vernazza treffend, dass auch viele JournalistInnen zu diesem Zeitpunkt, als die Pandemie Europa gerade erreichte, schlicht Angst gehabt hätten – wie die meisten anderen auch.

Ansonsten belässt es Brennwald bei der diffus bleibenden Anklage wegen «Hofberichterstattung». Dabei kann es allein schon deshalb nicht so unausgewogen zugegangen sein, weil Brennwalds eigene Kronzeugen medial sehr präsent waren: Vernazza, Infektiologe am Kantonsspital St. Gallen, wurde nicht nur bereits Ende Februar von der WOZ interviewt, sondern erreichte laut NZZ in den vergangenen Monaten Hunderte Einträge in der Schweizer Mediendatenbank.

Ähnliches gilt auch für den von Brennwald befragten Beda Stadler: Der ehemalige Direktor des Instituts für Immunologie an der Uni Bern kommentierte die Coronapolitik ausgiebig, etwa als Autor in der «Weltwoche». Im Sommer prophezeite Stadler zudem, es werde keine zweite Welle geben. Auch ein weiterer Experte Brennwalds stach mit falschen Prognosen hervor: Der Chemienobelpreisträger Michael Levitt twitterte bereits Ende Juli, dass Covid-19 in den USA «in vier Wochen» Geschichte sein werde – «mit insgesamt weniger als 170 000 Todesfällen». Anfang Dezember wurden dort aber über 3000 Coronatote täglich vermeldet.

Virus und Wirtschaft

Nun wurde «Unerhört!» im Sommer gedreht, die jüngeren Entwicklungen konnte Brennwald also gar nicht berücksichtigen. Allerdings prägen Auslassungen auch den Teil, der die wirtschaftliche Misere am Beispiel eines ruinierten Hoteliers thematisiert. Seine Situation ist schlimm, aber ist daran wirklich der Lockdown schuld? Was ist mit denjenigen ÖkonomInnen, die betonen, dass zwischen den Bestrebungen, das Virus rigoros einzuhegen und den wirtschaftlichen Schaden gering zu halten, eben kein Zielkonflikt herrsche? Brennwald erwähnt diese Position nirgends, obwohl das im Film von Comedian Marco Rima gepriesene Beispiel Schwedens, wo es auch ohne Lockdown zum Wirtschaftseinbruch kam, dies nahelegen würde.

So geht es immer weiter. Eine Demonstrantin trägt ein Schild, auf dem die Maskenpflicht als Verletzung der Menschenwürde bezeichnet wird. Ist dieser Vorwurf denn angemessen? Brennwald, der selbst schon auf einer solchen Demo das Wort ergriffen hat, hakt nicht nach. Dann prangert ein Rapper die Corona-«Diktatur» und eine Schuhdesignerin die «Zensur» an – Brennwald lässt das einfach stehen. Stadler wiederum behauptet, dass Studien, die Masken empfehlen, den Leuten suggerierten, sie wären allein durch einen «Stofflumpen» vollständig geschützt. Dabei reicht eine Minute Internetrecherche, um auf behördlichen Seiten zu landen, die das Gegenteil bezeugen.

Eine Kritik, die es sich so bequem macht, könnte getrost unerhört bleiben. Die bittere Pointe: Brennwald kann sich von der aktuellen Coronapolitik des Bundesrats bestätigt fühlen – und tut dies auch, wie ein nachträglicher Vermerk auf der Website zum Film zeigt.