Agrarproteste in Indien: Strassenblockaden im ganzen Land
Vor der Hauptstadt Delhi spitzt sich der Protest gegen eine Reform der Landwirtschaft zu. Die BäuerInnen befürchten eine Privatisierung des Getreidemarkts zugunsten der Grosskonzerne.
Mit weiteren Strassenblockaden erhöhen Indiens BäuerInnen den Druck auf die Regierung. Bereits seit drei Wochen campieren Zehntausende vor den Toren der Hauptstadt. Manche von ihnen haben es nach Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften zum Jantar Mantar geschafft. Der Platz wurde 1993 zum offiziellen Protestort in der Hauptstadt erklärt, damit Demonstrierende nicht länger vor dem Präsidentenpalast für Unruhe sorgen. Schon damals stellten massive BäuerInnenproteste die Regierung auf die Probe.
Anlass für den Protest sind drei Agrargesetze im Parlament. Die LandwirtInnen befürchten, dass sie zu den VerliererInnen einer Privatisierungswelle werden. «Diese Reform wird unsere Familienbetriebe zerstören», sagt Sandeep Singh von der überparteilichen Bauernvertretung Bharatiya Kisan Union am Telefon. Er ist aus der 250 Kilometer entfernten Stadt Mansa im Bundesstaat Punjab nach Delhi gereist. Und er will nicht von der Stelle weichen, trotz der kühlen Temperaturen und der starken Luftverschmutzung in der Hauptstadtregion.
Abgeriegelte Supermärkte
«Zuerst haben sie Teile der Eisenbahn und Flughäfen verkauft. Nun haben sie ein Auge auf unser Farmland geworfen. Aber das werden wir nicht zulassen», sagt Singh. «Diese Gesetze werden nur Kapitalisten wie Ambani und Adani Vorteile bringen. Wir werden auf friedliche Weise die Regierung dazu bringen, unseren Forderungen zuzustimmen.» Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Verschiedene Bauernorganisationen rufen derzeit zum Boykott von Dienstleistungen und Produkten der indischen Grosskonzerne auf, die den Milliardären Mukesh Ambani und Gautam Adani gehören.
Vergangene Woche mobilisierten BauernvertreterInnen aus ganz Indien zu einem Generalstreik. Unterstützung bekamen sie von zahlreichen Gewerkschaften. Lebensmittelgrossmärkte blieben geschlossen. Landesweit wurden Strassen und Schienen mit der Forderung blockiert, die Gesetze zurückzuziehen. «Zufahrten zu Tankstellen und Supermärkten, die sich im Besitz von Ambani befinden, wurden ebenfalls gesperrt», erzählt der Jungbauer Anurag Randhawa.
«Keine Landwirte, kein Essen» lautet einer der Protestsprüche. Er findet Widerhall im ganzen Land. Randhawa, der in der Nähe der nordindischen Millionenstadt Amritsar lebt, hält vor Ort die Stellung, während seine Verwandten nach Delhi gereist sind. «All die Probleme, die wir seit Jahren haben, kommen jetzt hoch», sagt er. Gerade Kleinbauern fehle es an Maschinen zur Bewirtschaftung, sodass sie ihre Felder vor der neuen Aussaat abbrennen. Dies trägt zur Luftverschmutzung bei.
Vielen LandwirtInnen fehlt zudem das Wissen, wie sie ihre Waren zu fairen Preisen verkaufen können. Reis und Weizen werden bisher in staatlich organisierten Grossmärkten zu garantierten Mindestpreisen gehandelt. Künftig sollen die BäuerInnen ihre Ernte direkt an Privatfirmen liefern können. Wenn durch die Deregulierung diese Sicherheit wegfällt, droht ein Preiszerfall. In Regionen wie dem Punjab, in dem viele vom Mindestpreis abhängig sind, ist die Sorge besonders gross. Die Landwirtschaft trägt rund 15 Prozent zur indischen Wirtschaftsleistung bei, bildet aber die Lebensgrundlage für rund 58 Prozent der 1,3 Milliarden EinwohnerInnen des Landes.
Auf lange Dauer eingestellt
Zweifellos braucht es Agrarreformen in Indien, dafür sprechen nicht nur die vielen Suizide unter Landwirten. Auf der Mehrheit lasten Kredite, sagt Randhawa. Saatgut und Düngemittel sind teuer. Umweltkatastrophen wie der Klimawandel setzen den BäuerInnen immer mehr zu.
Man könne das neue Jahrhundert nicht mit Gesetzen aus dem vergangenen gestalten, sagte Premierminister Narendra Modi von der regierenden hindunationalistischen Volkspartei BJP. Er will sich diese Woche mit BäuerInnen treffen. Landwirtschaftsminister Narendra Singh Tomar verteidigt die umstrittene Reform als «Game Changer». Trotz Versprechungen, dass die Mindestpreise gesichert werden, bleiben die meisten BäuerInnen aber misstrauisch. Sie glauben, dass in diesem Spiel künftig die Grosskonzerne die Regeln diktieren.
Unabhängig von der Coronalage, trotz des einbrechenden Winters und schwieriger hygienischer Verhältnisse machen die Protestierenden deshalb weiter. «Wir haben uns darauf eingestellt, dass sich die Proteste in die Länge ziehen werden», sagt die 32-jährige Jassi Sangha. Sie wollte ihren Vater und ihren Bruder nicht allein in die Hauptstadt ziehen lassen. Vor Ort hat sie sich mit KünstlerInnen zusammengeschlossen. Ihre Zeit steckt sie in eine kleine Zeitung, um die protestierenden BäuerInnen mit den wichtigsten Informationen zu versorgen.
Kraft gibt ihr die Unterstützung, die aus Delhi kommt: Lebensmittel und Decken seien eingetroffen. Trotz der teils harschen Reaktion der Zentralregierung, die gegenüber den Landwirten Wasserwerfer und Tränengas einsetzt, bleibt auch Jungbauer Randhawa optimistisch. «Muslime, Hindus, Sikhs, Männer und Frauen mit unterschiedlicher Herkunft sind in Delhi zusammengekommen. Das ist ein positives Zeichen.»