Gastrostreik: Geöffnet von 16.30 bis 19 Uhr
Anständige Arbeitsbedingungen oder finanzierte Schliessung, das fordert die Gastronomiebranche in der Deutschschweiz. Den Gastrostreik in Bern haben BeizerInnen und Angestellte gemeinsam organisiert.
«Wer möchte schon um 19 Uhr rausgeschmissen werden?» Diese rhetorische Frage stellte die Berner Quartierbeiz Brasserie Lorraine am Montag in ihrer Ankündigung, bis auf Weiteres zu schliessen. Eine Entschädigung für die damit wegfallenden Einnahmen erhält das Lokal derzeit nicht. Sperrstunde, wenn für die meisten Restaurants und Bars das Geschäft eigentlich erst beginnt, fast wöchentlich ändernde Vorgaben bezüglich Coronaschutzmassnahmen, fehlende verbindliche Regelungen bei den Geschäftsmieten: Die Gastrobranche ist verzweifelt. Und wütend.
Am Samstagnachmittag versammelten sich in der Berner Innenstadt etwa tausend Personen, um gegen die für sie unhaltbaren Zustände zu protestieren. Obwohl als «Streik» bezeichnet, hatten längst nicht alle der über 140 Betriebe, die sich dem Aufruf des Komitees anschlossen, tatsächlich geschlossen. Auch die Bar Les Amis nicht. «Wir waren zwar im Streikkomitee engagiert, aber der zuständige Teilinhaber meinte, wir könnten es uns leider nicht leisten zu schliessen», erklärt Barmitarbeiterin Nicoletta Hartung.
Solidarisch innerhalb der Betriebe
Das «Les Amis» ist unter der Woche noch für ganze zweieinhalb Stunden pro Tag offen. Dass sich das wirtschaftlich nicht lohnen kann, liegt auf der Hand. «Unter der Woche haben wir nur noch für die Stammgäste geöffnet», sagt Hartung. Die Barangestellte sitzt mit zwei Mitarbeiterinnen an einem Holztisch vor dem Eingang zur Bar. Die drei Frauen gehören zu den zwanzig Personen aus insgesamt zehn Betrieben, die den Berner Gastrostreik organisiert haben – die grösste Solidarisierungsaktion, die die Branche je gesehen hat.
Für die Belegschaft des «Les Amis» war die politische Aktion Neuland. Eine durchwegs positive Erfahrung sei es gewesen, sagt Hartung: «Der Streik gab mir einen Sinn und sehr viel Energie.» Die Protestaktion sei nicht nur gut gewesen, um seinem Unmut Luft zu machen, sondern auch zum Zweck der Vernetzung. Die Mitglieder des Streikkomitees waren einen ganzen Tag lang in den Berner Quartieren unterwegs, um möglichst viele Restaurants für den Streik zu mobilisieren. «Die Reaktionen waren positiv und solidarisch», sagt Hartung.
Solidarität ist auch innerhalb der einzelnen Betriebe nötig. «Wir sind ein familiärer Betrieb mit flachen Hierarchien», sagt Noelle Lenz, die Barverantwortliche des «Les Amis». Im Team habe man sich so organisiert, dass diejenigen, die finanziell stärker darauf angewiesen sind, im Moment anteilsmässig mehr Schichten arbeiten können. «Ein Mitarbeiter hat einen Sohn in Ausbildung, mit den wenigen Stunden und nur achtzig Prozent Kurzarbeitsentschädigung würde er nicht durchkommen», so Lenz. Obwohl der Stundenansatz im «Les Amis» über dem im Gesamtarbeitsvertrag festgelegten Mindestlohn liegt, komme man abzüglich des 13. Monatslohns mit der Kurzarbeit nur auf etwas über 16 Franken pro Stunde. Das im Gastgewerbe essenzielle Trinkgeld fällt fast komplett weg. «Mit dem Lohn zahle ich meine Fixkosten, aber leben tue ich normalerweise vom Trinkgeld», so Lenz, die ihr Erspartes mittlerweile fast aufgebraucht hat.
«Wir sind gemeinschaftsrelevant»
Das Streikkomitee fordert deshalb eine hundertprozentige Kurzarbeitsentschädigung für Löhne unter 4000 Franken. Das betrifft die meisten Angestellten, denn die Gastronomie ist nicht nur eine Tieflohn-, sondern auch eine Teilzeitbranche. Im «Les Amis» arbeitet niemand Vollzeit, die meisten haben Zweitjobs – manche von ihnen in anderen Beizen. Doch nicht nur die Existenzangst aufgrund von Lohneinbussen ist eine grosse Belastung, sondern auch die Verantwortung, neben der regulären Arbeit auch ständig die Einhaltung der Schutzkonzepte zu überwachen. Die Mitarbeiterinnen des «Les Amis» halten deshalb die Forderung des Streiks, alle Gastrobetriebe zu schliessen und fair zu entschädigen, für zentral: «Es geht nicht darum, dass wir nicht arbeiten wollen, aber der Druck ist unter den momentanen Bedingungen einfach zu gross.»
Die Berner Gastroszene ist mit ihrem Protest nicht allein. Auch in anderen Städten, etwa in Zürich und St. Gallen, wenden sich BeizerInnen und Angestellte mit ähnlichen Forderungen an kantonale und nationale Behörden. Zumindest der Wunsch nach einer Schliessung der Betriebe dürfte bald erfüllt werden: Am Freitag informiert der Bundesrat an einer Pressekonferenz über neue Massnahmen. Zur Debatte steht ein erneuter Lockdown, der auch die Gastronomie betreffen würde.
Dass dies allein nicht reicht, um die Betriebe zu retten, zeigt sich in Basel-Stadt, wo Bars und Restaurants seit dem 23. November geschlossen sind. In der vergangenen Woche haben sich über sechzig Basler BeizerInnen zusammengetan und finanzielle Soforthilfe gefordert, denn die Fixkosten laufen weiter. Auch die Angestellten melden sich anderswo zu Wort: Das Kollektiv Gastra, ein Zusammenschluss von Luzerner und Zürcher GastroarbeiterInnen, solidarisierte sich vergangene Woche mit dem Protest in Bern. In ihrem Aufruf betonen die Kollektivmitglieder die gesellschaftliche Bedeutung der Gastronomie: «Wir mögen nicht ‹systemrelevant› sein, aber sehr wohl gemeinschaftsrelevant.»