Offene Beizen: Hauptsache, die Wirtschaft läuft
Seit Montag haben die Restaurants wieder geöffnet. Doch viele Beschäftigte haben Angst vor Ansteckungen. Die WirtInnen wiederum befürchten Verluste und kritisieren teils ihre eigenen Lobbyverbände. Freuen können sich eigentlich nur die VermieterInnen.
Auf der Treppe, die in das Restaurant Au Gratin am Zürcher Bahnhofplatz führt, sind alle paar Stufen Markierungen angebracht: Wartende Gäste sollen einen Mindestabstand einhalten. Es ist Montagmittag. Die Gaststätte hat zum ersten Mal seit fast zwei Monaten wieder geöffnet – doch wartet niemand, und der Speisesaal ist praktisch leer. «Damit haben wir eigentlich gerechnet», sagt der Wirt Urs Pfäffli, der auch Präsident des Verbands Gastro Zürich City ist. Pfäffli hätte mit der Wiedereröffnung gerne zugewartet: «Um das Restaurant gewinnbringend betreiben zu können, muss es voll sein.» Wegen der Zwei-Meter-Abstandsregel bietet sein Restaurant aber nur halb so vielen Gästen Platz wie gewöhnlich.
Pfäffli ist mit seiner Skepsis nicht allein. In einer Umfrage seines Verbands sprachen sich Mitte April die Hälfte der WirtInnen gegen eine rasche Wiedereröffnung aus. Weitere 39 Prozent sprachen sich nur dafür aus, sofern der Betrieb durch die Vorsichtsmassnahmen nicht zu stark eingeschränkt werde.
Mit der Öffnung unter den jetzigen Regeln werde es finanziell schwieriger, als wenn das Restaurant geschlossen geblieben wäre, sagt Marlene Halter, Inhaberin und Küchenchefin des Trendlokals Metzg an der Zürcher Langstrasse. Achtzehn Gäste haben in ihrem Lokal noch Platz: kaum genug, um mit den Einnahmen die Löhne derjenigen Mitarbeitenden zu bezahlen, die wieder im Einsatz sind. Dabei steht die Wirtin unter Druck, zu öffnen: Um als geschlossener Betrieb weiter Kurzarbeitsentschädigung zu erhalten, müsste sie nachweisen, dass die Wiedereröffnung ein reines Verlustgeschäft wäre und Entlassungen zur Folge hätte, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft auf Anfrage schreibt.
Nicht systemrelevant
Auch viele Beschäftigte in der Branche sind über die jetzige Öffnung nicht glücklich. Sie befürchten, sich während der Arbeit mit dem Virus anzustecken. Für Gewerkschafter Mauro Moretto, verantwortlich für das Gastgewerbe bei der Unia, ist der schnelle Öffnungsschritt deshalb mit grossen Fragezeichen verbunden. «Uns ist jetzt vor allem wichtig, dass die Schutzmassnahmen tatsächlich eingehalten werden.» Bei über 20 000 Betrieben in der Schweiz werde das kaum überall gegeben sein. Das bestätigt Lou Ernst vom Gastra-Kollektiv, einem Zusammenschluss von nichtmännlichen Serviceangestellten, das sich im Vorfeld des feministischen Streiks vom letzten Juni gebildet hat: «In mehreren uns bekannten Restaurants wird dem Personal das Tragen von Schutzmasken verboten», beklagt Ernst. Die rasche Wiedereröffnung sei falsch: «Wieso sollen wir uns dem Risiko einer Ansteckung ausliefern müssen – für ein Geschäft, das nicht systemrelevant ist und aktuell nicht einmal rentiert?»
Für die rasche Öffnung der Restaurants hatte vorab der Dachverband Gastro Suisse lobbyiert. Wirtin Marlene Halter fühlt sich von ihm schlecht vertreten: «Für diese bürgerlichen Verbände ist die Hauptsache, dass die Wirtschaft läuft. Aber sie denken kaum weiter über die Umstände nach, die dann die Gastronomie zum Stolpern bringen.» Wirt Urs Pfäffli äussert sich vorsichtiger. Die Branche sei eben divers. Tatsächlich ist die Stimmung im ländlichen Restaurant Sternen in Thörishaus BE anders. Laut Wirtin Eveline Neeracher werde der Umsatz zwar zurückgehen, aber die ganze Belegschaft freue sich über die Öffnung. Die Schutzvorschriften müsse man halt akzeptieren. «Das hat der Bundesrat entschieden, und ich würde mir nie anmassen, den Bundesrat zu kritisieren.»
Die Last der Miete
Für viele Gastrobetriebe in den Städten sind dagegen vor allem die Mietkosten ein grosses Problem: «Natürlich möchten die Leute auf dem Land mit viel Platz und tiefen Fixkosten möglichst schnell wieder arbeiten», sagt etwa Maurus Ebneter vom Wirteverband Basel-Stadt. «Aber in den städtischen Gebieten kommen wir, solange wir eine hohe Miete bezahlen müssen, unmöglich auf einen grünen Zweig.» Trotz Schliessung und einem nun absehbaren tieferen Umsatz müssen die meisten Betriebe weiterhin die volle Miete zahlen. So erhielten in Zürich gemäss der erwähnten Umfrage nur 35 Prozent der Wirtshäuser eine Reduktion.
An der jetzigen Misere tragen nicht zuletzt bürgerliche ParlamentarierInnen die Schuld, die während der Sondersession des Parlaments Beschlüsse zu einer Mietzinsreduktion verhinderten. Viele WirtInnen hoffen nun auf einen Entscheid in der Sommersession vom Juni: «Da wird man dann aufdecken müssen», sagt Urs Pfäffli sichtlich empört, «welche von diesen Nationalräten tatsächlich für das Gewerbe einstehen und welche nur so tun.»
Pfäfflis Miete ist zwar momentan gestundet, aber das bringt ihm vor allem mehr Schulden. «Und jetzt, wo wir wieder geöffnet haben, ist unsere Verhandlungsposition noch schwächer», sagt er. Sein Betrieb ist bei der Immobiliengesellschaft PSP Swiss Property eingemietet. Deren Portfolio hat gemäss eigenen Angaben einen Wert von 7,2 Milliarden Franken. Pfäffli weiss nicht, ob sein Restaurant unter diesen Voraussetzungen den Sommer überstehen wird. Spätestens im März 2021 ist aber sowieso Schluss; die PSP hat seinen Vertrag gekündigt. Sie wird das Lokal sanieren und neu vermieten, wie sie der WOZ bestätigt – und so noch mehr Miete kassieren können.