Von oben herab: 100 qm Deutschland

Nr. 51 –

Stefan Gärtner wirft keine Kinder aus dem Fenster

Jetzt war es also passiert: Um acht den Jungen in die Kita gebracht, um Viertel nach zehn rief die Leiterin an, ich müsse ihn wieder abholen. Eine Kollegin sei positiv auf Corona getestet worden, sie, die Leiterin, mache jetzt erst mal alles dicht, das Gesundheitsamt entscheide das Weitere. Das Gesundheitsamt entschied dann auf zehn Tage Quarantäne für das Kind und eine Betreuungsperson. Die Leiterin sagte zu mir: «Dann kannst wenigstens du arbeiten gehen.» Es ist scheints immer noch ganz selbstverständlich, dass das so herum gehandhabt wird, und als meine Frau im Supermarkt auf einen argwöhnischen Kitavater traf, musste sie klarstellen, keine Quarantänebrecherin zu sein, sondern bloss gleichberechtigt.

Zuerst ist so eine Quarantäne auch ein bisschen aufregend. Wir waren jetzt Teil der Krise. Nicht mehr hinausdürfen, einen eingeschränkten Alltag haben und ein Kleinkind, das man zwölf Stunden täglich daran hindern musste, auf Tische zu klettern, Bücherregale auszuräumen oder den Haushaltsreiniger auszutrinken: Es herrschte, ganz klar, Notstand, und wenn meine Frau vom Einkaufen kam, musste sie mir sogleich berichten, was «draussen» so los war. Es war natürlich gar nichts los, sogar erheblich weniger, als normalerweise los ist, aber doch mehr als drinnen.

Drinnen merkten das Söhnchen und ich nämlich, dass gar nicht so viel los ist, wenn nichts los ist, und dass selbst ein gut gefülltes Spielwarenlager die Schmutzpfütze auf dem Spielplatz nicht aufwiegt. Wir haben sogar ein bisschen Hinterhof, mit einem kleinen Sandkasten, aber es war immer derselbe Sandkasten, bei fünf Grad plus, und während in einem richtigen Gefängnis der Hofgang durch Schlägereien und Zigarettentausch an Unterhaltsamkeit gewinnt, versuchte bei uns der Nachwuchs bloss, bei der Nachbarin die Kellertreppe hinunterzufallen. Das ist verständlich, denn geschlagen werden in unserer links-grünen Nichtraucherfamilie nur die Autoritäten, und dann riegelte ich mit dem Gartentisch den Weg zur Nachbarin ab und konnte meinem Freund A., der aus der DDR stammt, ein Foto schicken: «Sicherer, wirksamer Schutz der Staatsgrenze». Das war der Höhepunkt des Tages.

Und das war erst der zweite Tag, und er nahm kein Ende, denn wenn man sich den ganzen Tag langweilt, ist man abends auch nicht müde. Mindestens gilt das für Kinder, die dann vor halb zehn nicht zu beruhigen sind. Es gibt ja diese Broschüren, die in der Geburtsklinik ausliegen und in denen steht, dass man seine Kinder nicht schütteln oder aus dem Fenster werfen soll, wenn sie greinen. Wir wohnen Erdgeschoss und stellen die Geschirrspülmaschine erst abends an, weil das Rumpeln und Gluckern so einen beruhigenden Effekt hat.

«Zürichs kranke Behörde … Schlafstörungen, Herzprobleme, Burn-out. Die hohe Arbeitslast und überforderte Vorgesetzte setzen den Zürcher Staatsanwältinnen und Staatsanwälten zu. Von 115 Befragten beklagen 91 jobbedingte gesundheitliche Probleme», stand jetzt im «Tagi», der recherchiert hat, dass die Zürcher Staatsanwaltschaft unterbesetzt und überfordert sei. In Deutschland ist das übrigens ähnlich: zu wenig Personal, zu viele Fälle, was u. a. zu der Forderung geführt hat, Schwarzfahren nicht mehr als Straftat, sondern nur mehr als Ordnungswidrigkeit zu behandeln. Das hält man aber weithin für einen linksextremen Irrweg, sodass jetzt überlegt wird, Gerichte und Staatsanwaltschaften flächendeckend mit Geschirrspülmaschinen auszurüsten, in jedes Büro eine. Damit die Geräte nicht leer laufen müssen, werden die Akten besonders schmutziger Verfahren darin aufbewahrt, und ich kann von Glück sagen, dass die Weihnachtsfeier der Hannoveraner Justizbehörden dieses Jahr ausfällt und ich auch nicht als Conferencier gebucht war; denn dieser «Witz» hätte mich am Ende den Hofgang gekostet!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.