Eine Weihnachtsgeschichte: Das Erdhörnchen unter dem Eis
Es war der Tag des Festes, und das ganze Dorf bereitete sich darauf vor. Pinas Vater backte, Lobos Grossmutter kochte. Emmerich, der Architekt, übte das Lied, das er jedes Jahr anstimmte, und Frau Werk von der Dorfgärtnerei Werk schmückte den Kreisel beim Dorfeingang und die Blumenrabatten entlang der Dorfstrasse. Sie schmückte auch die grosse Hecke neben der öffentlichen Feuerstelle. Dort würde sich das Dorf am Abend versammeln, und es würde Suppe geben, Kürbis, wie jedes Jahr, und Kuchen, Zitrone, wie jedes Jahr. Und es würde ein riesengrosses Feuer brennen, das bis über die Hecke reichen würde und die Funken bis ins All.
Es war der Tag des Festes, und es war windig.
Pina und Lobo mussten nicht weit gehen. Auf dem Hügel war der Wind am stärksten. Er heulte ihnen um die Ohren.
Sie lehnten sich gegen ihn. Sie hielten sich die Ohren zu.
Sie schauten zurück zum Dorf und sahen ihre eigenen Fussspuren im Schnee.
Wie eine Nabelschnur, sagte Pina. Und Lobo sagte, dass der Schnee es unmöglich mache, ungesehen aus dem Dorf zu kommen.
Schon auf dem Weg zum Hügel erkannten sie, dass der Wind zu schwach sein würde, um sie zu tragen.
Das wird nicht funktionieren, sagte Lobo, und Pina nickte.
Ich dachte, es könnte reichen, die Wetterfahne drehte wie wild, die Hecke stand schräg, alle Zeichen standen günstig.
Sie wären gerne über das Dorf geflogen, hätten von oben den Teich gesehen und den Steg, die Hecke und die Feuerstelle. Sie hätten Lobos Haus gesehen, Pinas Haus, das Haus des Architekten. Und vielleicht hätten sie sogar Pilaster gesehen, als kleinen schwarzen Punkt über die Strasse gehend. Und dann wären sie über das Dorf hinweggeflogen und hätten alles unter und vor sich liegen sehen, das ganze Umland, bis zum Horizont.
Alle, die nicht grösser waren als einen Meter fünfzig, gehörten zu den Hoffnungsträgern des Dorfes. Dazu zählten Lobo, Pina und Pilaster, der Hund des Architekten. Wobei Pilaster nicht wirklich mitgezählt wurde, da im Dorf die Meinung vorherrschte, dass ein Hund nicht für die Zukunft des Dorfes in Anspruch genommen werden könne.
Das Dorf war sehr darauf bedacht, Pina und Lobo die Zukunft gutzureden. Diese Zukunft stand in engem Zusammenhang mit der Zukunft des Dorfes. Die Zukunft des Dorfes stand in engem Zusammenhang mit dem Stand der Dorfkasse.
Wenn der Stand der Dorfkasse es zulässt, sagten sie, dann kommt die Schule wieder ins Dorf und damit Familien, andere Kinder. Oder: Wenn der Stand der Dorfkasse es zulässt, dann bauen wir einen neuen Bahnhof, und dann reisen mehr Touristen an, und du wirst die Bahnhofsvorsteherin, Pina. Esst Nüsse, Kinder, schlaft viel, euer Wachstum ist unser Wachstum.
Lobo und Pina fragten sich, ab wann ein Dorf als Dorf bezeichnet werden könne. Ein Bahnhof macht ein Dorf nicht zu einem Dorf, auch nicht ein Dorfladen oder eine Schule. Es gibt Dörfer ohne Bahnhof, ohne Dorfladen, ohne Schule.
Sie standen auf dem Hügel und hielten sich die Hände so vor das Gesicht, dass sie Teile des Dorfes verdeckten, und überlegten sich, ob das Dorf auch dann noch ein Dorf war, wenn der Kreisel am Dorfeingang wegfiel, Lobos Haus, der Schuppen daneben oder der Steg am Teich.
Der Schnee lag über dem Eis, das Eis lag über dem Teich. Im Teich, an dessen Grund, vermutete Pina winterstarre Fische, die sich kaum bewegten. Nur selten ein Schlag mit der Flosse. Nur ab und zu ein Schnappen nach Algen.
Pina stand als Erste auf das Eis. Lobo hielt sich währenddessen die Hände ganz vor das Gesicht, und Pina rief ihm zu, dass er ein Feigling sei, dass er kommen oder wenn nicht, dann zumindest schauen solle. Schau, es hält, rief Pina.
Neben Lobo bellte Pilaster, während Pina auf ihren Sohlen über das Eis rutschte und mit den Armen ruderte und hinfiel und wieder aufstand und laut fluchte und dann vor Freude schrie und wieder rief: Schau, es hält. Und während dann auch Lobo einen Schritt auf das Eis wagte, begann sich ein Riss zu bilden. Und ein Knacken war plötzlich zu hören.
Blitzschnell waren beide Kinder wieder am sicheren Ufer, und Pilaster drehte sich vor lauter Aufregung oder Freude oder was auch immer es sein mochte, im Kreis und erstickte beinahe an seinem eigenen Bellen.
Maud war ihre neue Lehrerin. Maud war 28 und erst seit kurzem im Dorf, um Pina und Lobo etwas beizubringen. Sie war motiviert, Lobo und Pina etwas beizubringen, was sie im Leben brauchen könnten, und sie hatte von den Kindern wissen wollen, was sie dachten, in ihrem Leben einmal brauchen zu können. Was wollt ihr lernen, hatte Maud gefragt.
Alles über das Wetter, über Wind, Wolken, Regen, Schnee und Eis, hatte Pina gesagt.
Alles über Tiere, hatte Lobo gesagt.
Das kriegen wir hin, hatte Maud gesagt.
An ihrem ersten Schultag hatten sie mit den Arktischen Erdhörnchen begonnen und waren bei unterschiedlichen Tierspuren im Schnee gelandet, und Maud war der Meinung gewesen, dass sie gut vorankämen.
Was wisst ihr über das Wetter?, hatte Maud gefragt, und Pina und Lobo hatten gesagt, was sie wussten: dass der Wind meistens von Osten her kam und dass er meist stark war, aber nicht genügend stark, um das Gewicht von Menschen zu heben.
Dort, schau, dort bläst er, hatten sie zu Maud gesagt und auf eine Wetterfahne gezeigt.
Maud hatte sich zur Wetterfahne umgedreht. Und weiter?, hatte sie gefragt.
Der Wind begleitete sie den Hügel hinunter, sie spürten ihn im Rücken.
Und sie dachten an die Welt, die weit weg war. Unerreichbar für sie und ihr Alter. Unerreichbar für das ganze Dorf.
Wenn wir älter sind, sagte Pina, so alt wie Maud, dann schauen wir uns das alles an. Wir schauen uns das ganz genau an.
Was wisst ihr über den Winter, hatte Maud gefragt. Und Pina und Lobo hatten geantwortet, dass er meistens plötzlich komme, dass er eines Morgens einfach da sei, mit Schnee und wenig später auch mit Eis auf dem Teich.
Wenn Eis auf dem Teich ist, dann ist Winter, hatte Lobo gesagt. Und wenn der Winter genügend hart wird, dann wird das Eis genügend dick. Dann stehen wir auf das Eis und rutschen von der einen Teichseite über den ganzen Teich zur anderen Teichseite.
Das ist das Schöne am Winter, hatte Pina gesagt.
Pina und Lobo fanden Maud schön. Sie fanden sie sogar sehr schön. Pina wollte so sein wie Maud, so gross. Und Lobo gefielen besonders ihre bunt geschminkten Augenlider: Funken und farbig, grün und Glitzer.
Wie Fischschuppen, sagte Pina.
Pina sass am zugefrorenen Teich und kraulte Pilaster zwischen den Ohren. Sie wünschte sich, ein bisschen mehr Tier und ein bisschen weniger Pina zu sein. Sie wünschte sich, Fähigkeiten von Tieren zu besitzen. Das Kälteempfinden eines Elchs zum Beispiel wäre nützlich. Der Elch zittert erst bei minus vierzig Grad Celsius. Pina wünschte sich aus der Haut wachsende Daunenfedern oder am besten gleich ganz und gar ein Arktisches Erdhörnchen zu sein.
Die Arktischen Erdhörnchen hätten die Fähigkeit, gewisse Körperteile für gewisse Zeit einzufrieren und wieder aufzutauen, ohne Schaden zu nehmen, hatte Maud erzählt. Sie hatte erzählt, dass Forscherinnen versuchten, herauszufinden, wie es den Arktischen Erdhörnchen gelang, ihre Körpertemperatur auf minus zwei Grad Celsius zu bringen und in einen Tiefschlaf zu fallen, ohne zu sterben. Wenn man das herausfinden würde, dann könnten Astronautinnen in den Winterschlaf versetzt werden, hatte Maud gesagt, auf ihrem weiten Weg zu fernen Planeten. Sie würden weiter kommen.
Pina hatte an schlafende Astronautinnen gedacht und an Planeten, als Maud gesagt hatte, dass es auch schon passiert sei, dass Arktische Erdhörnchen nicht mehr auftauten. Es passierte, dass sie tiefgefroren starben. Fossile Skelette seien gefunden worden von Erdhörnchen, die es nicht mehr geschafft hätten zu erwachen. Der Tod sei im Eis manchmal sehr nah, hatte Maud gesagt, vor allem wenn die Sonne fehle.
Pilaster drehte sich auf den Rücken, und Pina dachte, dass die Welt hier manchmal noch weiter weg war als die Sonne. Und Pina kam sich klein vor. So klein wie ein einsames, gefrorenes Arktisches Erdhörnchen unter einer dicken Schicht Eis.
Pina und Lobo liefen Richtung Wald, Brennholz sammeln für das grosse Feuer. Auf dem Weg schauten sie immer wieder über ihre Schultern. Mit jedem Schritt, den sie gingen, wurde das Dorf kleiner und kleiner.
Irgendwann wollte Lobo Pause machen. Sie blieben stehen und hielten sich die Hände so vor das Gesicht, dass das ganze Dorf darin Platz fand und hinter ihren Handflächen verschwand.
Als ob wir es in der Hand hätten, sagte Lobo.
Und Pina dachte, dass es genau auch umgekehrt sein könnte, dass nicht sie das Dorf, sondern das Dorf sie in der Hand hatte.
Pina stellte sich vor, dem Dorf den Rücken zu kehren. Sie stellte sich vor, weiter und weiter zu gehen, bis nach Kanada, bis zu den Arktischen Erdhörnchen und noch weiter.
Es war der Tag des Festes, und es war bereits dunkel. Das Feuer loderte, und alle standen darum herum. Frau Werk von der Dorfgärtnerei Werk warf Äste nach, die ihr Lobo reichte. Maud fütterte Pilaster mit Kuchenkrumen. Emmerich, der Architekt, sang das alle Jahre gleiche Lied, und mehr oder weniger alle sangen mit. Und die Funken stiegen hoch in den Nachthimmel und vermischten sich mit den Sternen. Funken und farbig, grün und Glitzer.
Pina dachte daran, dass in diesem Moment eine Astronautin aus ihrem Winterschlaf erwachen und auf die Erde schauen könnte. Die Astronautin würde das Dorf nicht sehen, nicht das Feuer und nicht Lobo oder Pina. Sie würde nur die Erde als Kreis sehen und die Musterung aus Grün und Blau und Weiss, aus Kontinenten und Meeren und Wolken. Vielleicht würde sich die Astronautin wünschen, an diesem Abend auf der Erde zu sein. An einem solchen Feuer zu stehen mit Menschen rundherum und Licht und tanzenden Schatten. Vielleicht würde sie sich unfassbar einsam fühlen und unfassbar klein. Vielleicht aber wäre sie auch sehr glücklich dort oben, weil sie von dort aus die Übersicht hätte und sehen könnte, dass sie selber zwar klein war, aber die ganze Welt überschaute.
Pina schloss für einen kurzen Moment die Augen und schaute wieder zu den Funken und Sternen. Für Pina fühlte es sich für diesen Moment zumindest so an, als ob sie grösser geworden wäre.
Die Autorin
Gianna Molinari, 1988 in Basel geboren, lebt in Zürich. 2018 erschien ihr erster Roman «Hier ist noch alles möglich» im Aufbau Verlag, mit dem sie für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert war. Sie ist Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» und des Autorinnenkollektivs Rauf.