EU-Grenzen: Ein Dokument der Schande

Nr. 52 –

Exzessive Gewalt, Misshandlung, Erniedrigung: Ein Schwarzbuch zu Pushbacks wirft einen schockierenden Blick auf das europäische Grenzregime.

Bosnischer Polizist auf Patrouille an der Grenze: Hier ist es zu brutalen Pushbacks über den Fluss Drina nach Serbien gekommen. Foto: Armin Durgut, Keystone

«Ehe sie die Wache verliessen, wurden ihnen Handschellen angelegt, die Polizei benutzte eine erniedrigende Sprache und schlug sie auf den Hinterkopf. Die beiden Minderjährigen begannen zu weinen. Sie wurden in einen weissen Bus mit verdunkelten Scheiben geladen, aus denen man nicht nach draussen schauen konnte, es gab keine frische Luft. Als sie fragten, wohin sie führen, entgegnete der Beamte, sie sollten ihr Maul halten.»

Szenen wie diese, die an ein diktatorisches Regime erinnern, gehören zum Alltag an den Aussen- und zunehmend auch an den Binnengrenzen der Europäischen Union. Die obige Schilderung betrifft fünf pakistanische Geflüchtete im Alter zwischen 15 und 45 Jahren. Mitte Juli dieses Jahres wurden sie in Triest von Beamten verhaftet, die sich als Geheimpolizisten ausgegeben hatten.

Die Schilderung ist eines von 892 vergleichbaren Zeugnissen von Geflüchteten, die im «Schwarzbuch der Pushbacks» gesammelt sind. Erstellt wurde das Buch vom Border Violence Monitoring Network (BVMN), einem Zusammenschluss von NGOs und Menschenrechtsinitiativen. Es kritisiert seit Jahren die zunehmende Zahl von Pushbacks, also die illegalen und formlosen Rückschiebungen von Asylsuchenden über eine Grenze, sowie die fehlenden staatlichen Kontroll- und Sanktionsmechanismen. In Auftrag gegeben und finanziert hat das Buch die Fraktion der Linken im EU-Parlament.

Offiziell nicht eingestanden

Letzte Woche, zum Internationalen Tag der MigrantInnen am 18.  Dezember, wurde es per Videoschaltung im Parlament vorgestellt. «Was wir heute auf den Tisch legen, existierte in dieser Form bisher nicht», so Cornelia Ernst, deutsche Abgeordnete der Fraktion der Linken. Das 1500 Seiten umfassende Dokument liefere «deutliche Beweise, dass an den Aussengrenzen strukturell und beabsichtigt staatliche Gewalt gegen Geflüchtete ausgeübt wird» – mit dem Zweck, ihre Einreise zu verhindern.

Pushbacks, betont das Schwarzbuch, verstossen gegen das in der universellen Erklärung der Menschenrechte enthaltene Recht auf Asyl, die Grundrechtscharta der EU sowie das in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegte Prinzip der Nichtzurückweisung. Trotzdem hätten sie sich vor allem seit der Schliessung der sogenannten Balkanroute 2016 zunehmend zu einer «gut koordinierten, systematischen Praxis» entwickelt, die offiziell nicht eingestanden werde.

Die gelisteten Fälle, die 12 654 rückgeschobene Personen betreffen, sind dabei nur ein Teil des tatsächlichen Umfangs dieser Praxis. Die Dokumentation, die detailliertes Kartenmaterial enthält, widmet sich auch sogenannten Kettenrückschiebungen, die etwa von Italien oder Österreich über Slowenien und Kroatien verlaufen: ein gesetzwidriger Transport, rückwärts entlang der stillgelegten Balkanroute über die europäischen Aussengrenzen hinaus. Von rund 3000 Pushbacks von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und Serbien, die allein für 2019 protokolliert sind, war rund ein Fünftel Teil einer solchen Kette.

Dies gilt auch für das eingangs erwähnte Zeugnis der pakistanischen Männer, die von Italien zunächst nach Slowenien gebracht wurden. Die dortigen Beamten schlugen sie mit Stöcken und übergaben sie den kroatischen Kollegen. Diese banden ihnen die Hände mit Kabelbindern zusammen und misshandelten sie mit stacheldrahtumwickelten Schlagstöcken. Darauf folgte eine stundenlange Fahrt in unbelüfteten Polizeibussen an die bosnische Grenze, wo sie erneut geschlagen und mit Pfefferspray besprüht wurden. Zuletzt schoss ein kroatischer Beamter dreimal in die Luft und hetzte einen Schäferhund auf sie, um sie zurück nach Bosnien zu treiben. Das Ersuchen der Geflüchteten um Asyl wurde nacheinander von italienischen, slowenischen und kroatischen GrenzbeamtInnen ignoriert.

Gewalt ist die Regel

Im Blickpunkt des Buches steht das Vorgehen der Beamten. Als «gnadenlose, sadistische und erniedrigende Gewalt» fasst das Border Violence Monitoring Network deren Praxis in der Einleitung zusammen. 2020 habe sich diese Situation noch verschlimmert. «Es ist selten, keine Gewalt bei einem Pushback zu erleben. In Kroatien und Griechenland betrifft sie beinahe neunzig Prozent der dokumentierten Fälle.»

Genannt werden unter anderem der Einsatz elektrischer Waffen, erzwungenes Entkleiden, Drohen mit Feuerwaffen, Haft ohne die grundlegendsten Standards. Die Zerstörung oder Konfiszierung persönlichen Besitzes wie Telefonen ist gängige Praxis. Fotos von Platzwunden am Kopf oder Rücken mit Striemen und Blutergüssen dokumentieren die Menschenrechtsverletzungen, die das Netzwerk auch in monatlichen Bulletins beschreibt.

Verschiedene Medien haben 2018 über die ersten Pushbacks auf der ehemaligen Balkanroute berichtet, darunter auch die WOZ (siehe Nr. 49/2018 ). Bis heute gehen die Praktiken ungehindert weiter. «Eine Schande», so Europaparlamentarierin Cornelia Ernst. «Täglich wird an den EU-Aussengrenzen gegen EU-Prinzipien und Menschenrechte verstossen.»