Kulturlockdown: Hoffen auf die Auferstehung

Nr. 52 –

Wenn Kultur fehlt, fällt ein öffentlicher Denkraum weg. Was macht das mit einer Gesellschaft? Und wie hätte eine coronataugliche Kulturoffensive aussehen können?

Wenn sich die Kultur nun schlafen legt – wie wird sie im Frühling wieder aufwachen? Kinosaal in Lausanne. Foto: Jean-Christophe Bott, Keystone

Keine öffentliche Kultur mehr. Mit diesem Verdikt endet in der Schweiz das Jahr 2020. Nicht nur Theater, Kinos, Konzertlokale und Literaturhäuser mussten Mitte Dezember ihren Betrieb einstellen, eine Woche später wurden schweizweit auch Museen und die Lesesäle der Bibliotheken geschlossen. Dies während in den Läden weiterhin munter geshoppt werden kann und das Offenhalten der Skigebiete «im Ermessen der Kantone» liegt. Die Message ist eindeutig: Nichts ist in der Schweiz so wichtig wie Einkaufen und Skifahren – Kultur dagegen: vernachlässigbar.

Dies verdeutlichen auch die öffentlichen Diskussionen, die dem zweiten Lockdown vorangegangen sind. Während sich alles um das Skifahren drehte, blieb ein politischer Aufschrei zur gesellschaftlichen Bedeutung der Kultur aus. «Die Leute wollen raus in die Natur und sich bewegen», begründet der Berner Regierungsrat Pierre Alain Schnegg nur Tage vor Weihnachten die Entscheidung, im Kanton Bern die Skigebiete offen zu lassen. Dass «die Leute» auch in ein Theater, ein Museum oder eine Bibliothek wollen, etwa um das aktuelle Geschehen zu reflektieren, sich darüber mit anderen auszutauschen oder sich davon abzulenken – davon war vonseiten der Politik kaum etwas zu hören.

Singen im Schmerz

Während Skifahren ein Hobby für den Mittelstand ist, das für viel Geld ein paar Wochen im Jahr betrieben werden kann, ist Kultur mehr als ein Hobby. Natürlich ist Kultur Unterhaltung, Ablenkung, Spass, aber sie ist auch ein Denkraum, ein sozialer Ort, in dem Bildung, Austausch und Gemeinschaftsförderung stattfinden – sie hat ihre eigene Sprache, die Gemeinsamkeiten schafft, aber auch Orientierungshilfe für die individuelle Gestaltung unseres Lebens bietet. All das macht Kultur existenziell und identitätsstiftend für jede Gesellschaft.

«Wer auch im Schmerz noch singen kann, der lebt», heisst es im Lied «Rings ist der Wald so stumm und still» von Antonín Dvorák. Das bringt das Elend der aktuellen Situation auf den Punkt und stellt Fragen in den Raum: Wie können wir angesichts des stillen Sterbens weiterleben, ohne gemeinsam zu singen und zu trauern? Braucht es für den Umgang mit Krankheit und Tod nicht die Kultur dringlicher als das Skifahren? Brauchen wir nicht kulturelle Rituale und Ausdrucksformen, um mit dem Leben zurande zu kommen? Und wie können wir das in Zeiten von Corona, ohne andere zu gefährden?

Die grosse Naivität

Das grösste Missverständnis passierte wohl diesen Frühling. Als der Lockdown verhängt wurde, glaubten alle, das sei ein kurzer, vorübergehender Ausnahmezustand. Nicht nur die Kulturschaffenden, die sich für keinen Lohn auf dem Netz kreativ verausgabten und alle Termine auf den Herbst verschoben, sondern auch die Behörden, die provisorische Hilfspakete schnürten, als ob bald wieder alles beim Alten sein würde. In seiner wöchentlichen Corona-Passion-Kolumne schrieb Nicolas Stemann, Koleiter des Schauspielhauses Zürich, am 24. März in der NZZ: «Haha, wie naiv: Wir dachten, dass wir einfach nur für ein paar Wochen alle Veranstaltungen absagen müssen und schon das kam uns ganz und gar wahnsinnig vor! (…) Und nun: gar nichts mehr. Keine Vorstellungen. Keine Proben. Kein Betrieb. Einfach so. Zunächst einmal für vierzehn Tage, mal sehen.» Aus den Tagen wurden Monate.

Stellen wir uns vor, die Schweiz hätte nach dem Lockdown vom Frühling einen ganz anderen Weg gewählt, als Erstes hätten nicht die Coiffeur-, Kosmetik- und Massagesalons, die Baumärkte und Gärtnereien geöffnet, sondern es wäre eine Kulturoffensive lanciert worden: kein Shopping, dafür Kultur für alle. Während Läden, Restaurants und Fitnesscenter noch geschlossen geblieben wären – natürlich mit der nötigen finanziellen Unterstützung für die Betroffenen –, hätte man Museen, Kinos, Theater, Bibliotheken während mehrerer Wochen gratis zugänglich gemacht – natürlich mit entsprechendem Schutzkonzept. So wären all jene, die sich bisher keinen Theatereintritt hatten leisten können oder die keine Zeit hatten, in eine Bibliothek zu gehen, Teil des kulturellen Diskurses in diesem Land geworden.

Doch anstelle einer Kulturoffensive passierte das Gegenteil: Mitten in der Coronakrise sprach die Stadt Bern Budgetkürzungen im Kulturbereich für die kommenden Jahre aus, und der Kantonsrat Zürich stimmte Anfang Dezember Kürzungen der bisherigen Kulturförderung zu. Absehbar ist auch, dass als Folge der Steuerausfälle noch mehr Budgetkürzungen folgen werden – bestimmt wird es auch die Kultur treffen. Die vom Bund und zum Teil von den Städten soeben beschlossenen finanziellen Überbrückungsmassnahmen können die Not der Kulturschaffenden, -veranstaltenden und -institutionen für ein paar Monate lindern. Sie lösen jedoch mittelfristig das Problem nicht.

Winterschlaf ohne Reserve

Stemann nimmt in seiner Kolumne vom 6. April vorweg, was passieren wird, wenn die Massnahmen gelockert werden: «Und dann wird wieder Theater gebraucht! Hoffentlich aber gibt es das dann noch – nicht, dass es von der Politik in der Post-Corona-Triage weggespart worden ist. Fragen wie ‹Wen sollen wir retten: Den Rüstungskonzern oder das Stadttheater?› möchte niemand gern stellen – darauf, wie die Antwort ausfallen wird, wenn es hart auf hart kommt, sollten wir uns indes schon einmal vorbereiten.» Wie recht er hatte. Nur in einem täuschte er sich: Die Diskussion verlief nicht zwischen «Rüstungskonzern oder Stadttheater», sondern zwischen «Skifahren oder Kultur».

Kulturschaffende sprechen jetzt davon, dass sie in einen Winterschlaf fallen würden. Dieses Bild ist jedoch falsch: Die Tiere fressen sich vor dem Winterschlaf ein ordentliches Polster an, damit sie den Winter gut überstehen. Doch die Kulturschaffenden und Kulturveranstaltenden sind seit dem Frühling ausgehungert, sie sind erschöpft und haben keine Reserve mehr. Wenn sich die Kultur nun schlafen legt – wie wird sie im Frühling wieder aufwachen?

Der deutsche Schauspieler Lars Eidinger versucht, optimistisch auf die ganze Tragik zu schauen. Der Lockdown bedeute das Todesurteil für die Kultur, sagte er zwar Anfang Dezember in der Arte-Sendung «Twist», «doch Todesurteil heisst ja im biblischen Sinne Auferstehung – und daran glaube ich. Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an die Auferstehung der Kunst.» Damit diese gelingt, reicht der Glaube allein aber nicht – es braucht auch politischen Willen.

Nicolas Stemanns «Corona-Passion» ist in Buchform im Alexander Verlag Berlin erschienen.