Molchat Doma: Disco im Plattenbau

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Molchat Doma vertonen mit ihrem düsteren Postpunk die Betonästhetik ihrer Heimatstadt Minsk. Sie erzählen von Einsamkeit und Entfremdung, doch unter der Stalin-Statue wird auch getanzt.

Die Geister der Vergangenheit und der Gegenwart wegtanzen: Pawel Koslow, Roman Komogortsew und Egor Schkutko sind Molchat Doma. Foto: Kanaplev + Leydik

Plattenbauten, überall Plattenbauten. Wohin man auch blickt in den Videos der belarusischen Band Molchat Doma: immer wieder reihenweise Wohnsilos. Im Clip zum Synthiepopsong «Discoteque» etwa lassen sie eine Kamera durch die tristen Strassenzüge ihrer Heimatstadt Minsk streifen, lassen aber den achteckigen Bau der Nationalbibliothek wild aufleuchten wie eine riesige Discolampe. Für das Video zum Song «Volny» filmt eine Kameradrohne die Betonreste der ukrainischen Geisterstadt Prypjat im Sperrgebiet um Tschernobyl: Verlassene Bauten, verwaiste Fabriken, verrostete Tanker sind zu sehen, untermalt von düsterem Wave, über den sich die Grabesstimme von Sänger Egor Schkutko legt.

Molchat Doma verweisen mit ihrer Musik und ihrer Bildsprache auf die architektonischen Hinterlassenschaften und die totalitäre Ästhetik der Sowjetzeit. Der Name des 2017 gegründeten Postpunk-Trios bedeutet übersetzt so viel wie «die schweigenden Häuser». Auch jetzt, zur Veröffentlichung ihres dritten Albums, «Monument», betonen sie den künstlerischen Bezug zur unwirtlichen Umgebung in der belarusischen Hauptstadt. Das ist nachvollziehbar: Einerseits passen die Bilder des Grau in Grau gut zur Klangästhetik, andererseits symbolisiert kaum etwas mehr den Stillstand des Landes als das trostlose Stadtbild von Minsk.

Kleiner Hype

Die Gruppe, die neben Sänger Schkutko aus Gitarrist und Keyboarder Roman Komogortsew und Bassist Pawel Koslow besteht, trat bereits in zahlreichen europäischen Ländern auf. Im Frühjahr sollten sie eigentlich durch die USA touren und in Belarus erstmals einen grossen Gig spielen, doch das verhinderte das Virus. In der Heimat verweigerte man ihnen allerdings auch schon Auftritte aufgrund «mangelnden künstlerischen Niveaus» (Konzerte müssen in Belarus beim Kulturdezernat angemeldet werden) – ein Grund, warum sie im Ausland bekannter sind. Im Netz gab es im Frühjahr einen kleinen Hype um sie: Nachdem ihr 2018er-Album «Etazhi» in den USA erschienen war, wurde der darauf enthaltene Song «Sudno» millionenfach über Tiktok verbreitet.

Molchat Doma aktualisieren Klänge, die in den frühen und mittleren achtziger Jahren stilprägend waren. Auf «Monument» regiert ein düsterer, zäher Sound, der an The Human League oder Joy Division, aber auch an der legendären russischen Band Kino geschult ist. Im einleitenden «Utonut» sind hüpfende Synthesizer à la New Order zu vernehmen, die hohen Töne kontrastieren dabei oft den unterkühlten Gesang Schkutkos.

Die russischen Lyrics, die dem Album in englischer Übersetzung beiliegen, handeln oft von Einsamkeit, Angst und (Selbst-)Entfremdung. Zwar haben Molchat Doma das Album während der ersten Coronawelle eingespielt – diese Themen aber, schreibt Gitarrist Komogortsew auf Anfrage, hätten sie ohnehin schon immer beschäftigt. In «Leningradskiy Blues» etwa erzählt Schkutko von einer kurzen Affäre in St. Petersburg, die eine Weile zurückliegt, aber noch immer schmerzt. Unter «allen Schatten war sie der hellste», heisst es da, und das lyrische Ich sitzt am Ende verlassen da: «Das Herz in alle Einzelteile zerbrochen, aber was wollte er? / Diese Stadt vergibt dir keine flüchtigen Vergnügen.»

Postpunk im Osten

Auch wenn die Band sich zu den jüngsten Geschehnissen in Belarus nicht äussern will, sind die Zeichen, die sie sendet, durchaus politisch. Auf dem Cover des neuen Werks sieht man das Denkmal der nordkoreanischen Arbeiterpartei in Pjöngjang: Hammer, Pinsel, Sichel. Im Clip zu «Discoteque» taucht dieses erneut auf, diesmal vor der belarusischen Nationalbibliothek. Später tanzen die Musiker zwischen den Büsten Stalins und Lenins unter einer Discokugel. Die Musik dazu hat dank der hohen, sirrenden Synthies und des für ihre Verhältnisse flotten Tempos einen euphorischen Einschlag; der Song handelt von der Zweisamkeit auf der Tanzfläche und dem Staub des Alten, der über allem liegt. Die Geister der Vergangenheit und der Gegenwart, sie sollen hier gleichermassen weggetanzt werden. Die Band unterstützt die Oppositionsbewegung im Land auch mit der Beteiligung an einem Solisampler für die Opfer der staatlichen Repression («For Belarus»).

Die dunkle Spielart des Postpunk wurde in den osteuropäischen Staaten und in Russland in den vergangenen Jahren wieder vermehrt aufgegriffen. In Minsk hat sich eine kleine Szene gebildet, der neben Molchat Doma die Gruppen Dlina Volny, Nürnberg, Super Besse und Aktivität (das Soloprojekt von Roman Komogortsew) angehören. Und mit Gil’otina (Kiew), Motorama (Rostow), Ploho (Nowosibirsk), Human Tetris und Sierpien (beide Moskau) gibt es eine Reihe weiterer Bands, die im westeuropäischen Raum kaum bekannt sind.

Molchat Doma sind da die grosse Ausnahme – das liegt auch daran, dass die Alben «Etazhi» und nun «Monument» beim US-Label Sacred Bones erschienen sind, wo zum Beispiel die bekannteren Musikerinnen Zola Jesus oder Jenny Hval ihre Werke veröffentlichen. Aber sollte in Belarus nach 26 Jahren Alexander Lukaschenko nun tatsächlich die Tauzeit anbrechen, wird ihr Betonsound sicher auch in der Heimat stärker durchdringen.

Molchat Doma: Monument. Sacred Bones / Cargo. 2020