Erwachet!: Heitere Aussichten

Nr. 2 –

Michelle Steinbeck hört auf Sterne, Zahlenrad und Wissenschaft

Der Jahreswechsel steht normalerweise im Zeichen von zwei Traditionen: dem Rückblick aufs alte und dem Orakeln fürs neue Jahr. Heuer liess ich beides bleiben. Ich prostete mit edlem Sprudel in die Webcam (mehr für mich) und schaufelte Linsen wie wild – auf dass im neuen Jahr unsere Ausfallentschädigungsgesuche erhört werden und die liberale Verkündung endlich in Erfüllung geht: Leise trickelt der unermessliche Reichtum down.

Schon zu Beginn der Pandemie haben wir intuitiv geahnt, dass eher das Gegenteil eintreffen wird. Davon zeugt das kollektive Entbrennen des Austestens unserer verkümmerten autarken Fähigkeiten: Leidenschaftlich begrünten wir Balkone, Fensterbretter oder Hunde-WCs auf dem Trottoir mit Cherrytomaten, Stangenbohnen, Peterli und beobachteten ihr Wachsen oder Serbeln mit höchster Aufmerksamkeit. An dunklen, warmen Orten züchteten wir unsere eigene Hefemutter und lebten in Eintracht mit ihr zusammen. Wer eine Handvoll Früchte ernten oder ein gelungenes Brot aus dem Ofen ziehen konnte, jubelte: Ich kann mich selbst versorgen! Ich werde den Seuchenkommunismus überleben!

Ein nie gekannter Survivalmodus kam über uns und gibt uns schliesslich recht: Wer kein milliardenschweres Unternehmen ist, hat in den letzten Monaten gelernt, was Eigenverantwortung heisst.

Ein kurzer Blick aufs letzte Jahr giesst eigentlich von selbst das Blei, das uns die nächsten Jahre und Jahrzehnte voraussagt: Der gute alte Covidneunzehn ist nur die Aufwärmübung für eine Lifetime voller Pandemien. Es klingelt an der Tür, und eine unterbezahlte, unversicherte, asthmatische Velokurierin überreicht uns einen Blumenstrauss: ein Bouquet voll frecher Zoonosen. Das sagen auch die Sterne, das Zahlenrad und die Wissenschaft.

2020 war wirklich was Besonderes. Anders als in anderen Jahren waren wir genügsam: Wir blieben auf dem heimatlichen Fleck und widmeten uns mit Freude dem Haushalt und der Care-Arbeit. Das CO2, das wir mit Nichtfliegen gespart haben, ballerten wir bei Netflix umso genüsslicher raus – kompensieren ist das Zauberwort. Schliesslich haben wir in diesen pandemischen Zeiten noch schneller genug vom Winter und dem «Wir können uns ja draussen treffen». Die soziale Alternative zu Videokonferenzen: sich im Biswind am Glühwein die Zunge verbrennen. Langweilig! Darum engagieren wir uns für den Klimawandel, denn wir (oder unsere smarten Geräte mit ihren Fotogalerien) erinnern uns: Der letzte Februar war schon warm wie Mai, und im März gabs Sommerkleid und Sonnenbrand.

Das sind doch gute Aussichten: Sobald wir diesen leidigen ersten Monat des Jahres rumgekriegt haben, geniessen wir wieder unsere tropisch wuchernden Balkone, schmeissen uns in lokale Gewässer, hängen typisch mediterran auf dem Asphalt rum und grillieren ein paar Tiere. Und wer nach dem Winterurlaub in Spanien noch nicht genug hat vom Schlitteln, kann das auch bei uns wieder tun: Wenn die Blüten weiter so stauben wie vergangene Saison, legt sich das gelbe Gestöber bald auf die Hügel wie früher Schnee – das rutscht unter dem Davoser sicher fast genauso gut. Mit Ganzkörpermaske und Antihistamin intravenös sogar ein Spass für Heuschnupfige.

Ist das nicht wahre Lebenskunst? Hoffnung schöpfen aus der Katastrophe. Alles eine Frage der Perspektive. Wir sehen uns in zwei Wochen – in der Badi!

Michelle Steinbeck ist Autorin. Im neuen Jahr hat sie Grosses vor.