Literatur: Kein Verräter, ein Dichter

Nr. 2 –

Urs Zürcher erzählt in «Überwintern» von der Radikalisierung zweier Männer. Die Gründe für diesen Prozess findet er in einer Sprache, die alles ausser Zorn radikal ausschliesst.

Auf die Frage, woher der Zorn kommt, liefert «Überwintern», Urs Zürchers Roman über zwei junge Schweizer, die sich radikalisieren und schliesslich als Söldner in die Ukraine fahren, keine befriedigenden Antworten. Aber er findet für diesen absolut gegenwärtigen Zorn, der in einem Moment noch nicht da ist, in einem nächsten bereits allumfassend zu sein scheint, eine Sprache, der man noch nicht begegnet ist. Sie lässt uns jenen Hass, den man aus Kommentarspalten und einschlägigen Internetforen bereits gut zu kennen glaubt, über das Medium der Literatur nachfühlen. Das ist zwar alles andere als eine angenehme Erfahrung, aber auch etwas, dem man sich weder entziehen kann noch sollte. In ihr wird eine Subjektivität gespiegelt, die für unsere Gegenwart zentral ist.

Wohin eine Weltsicht führen kann, die aus einem solchen Hass geboren wird, braucht man nach sieben Jahren AfD und vier Jahren Donald Trump niemandem mehr darzulegen. Die spannendere Frage ist denn auch jene nach ihrem Ursprung, wird sich Historiker und Germanist Urs Zürcher gedacht haben. Das wohl faszinierendste Wesensmerkmal von «Überwintern» ist, dass sich die Hauptfigur Jonas der zentralen Bedeutung bewusst wird, die die Sprache für seinen Hass hat. Er analysiert sie, kultiviert sie für sich gar mit Kampfgedichten, richtet sich so gänzlich in ihr ein, als ob sie die fehlende Liebe seiner Eltern ersetzen könnte. «Er war kein Verräter, er war ein Dichter. Der Kampf beginnt mit der Sprache und endet mit der Sprache.» Weil er tragischerweise im «Krieg die höchste Form der Poesie» zu erkennen glaubt, besteigt er mit seinem ungleichen Freund Benjamin den Zug Richtung Osten, einzig, weil da gerade einer stattfindet.

Hauptsache, es brennt

Am allerwenigsten geht es dabei um die Politik. Schon gar nicht um jene, die dem seit 2014 in der Ukraine wütenden Krieg zugrunde liegt. Aber auch nicht um jene westeuropäische, die von einem hier als willkürlich dargestellten Konflikt zwischen links und rechts bestimmt wird. Von seinem Vater, einem ehemaligen DDR-Funktionär, hat Jonas zwar den Hass auf den Kapitalismus geerbt, der aber bloss ein Vorwand ist. Denn Jonas hasst in erster Linie einfach die Welt. Eine seiner Freundinnen bringt es auf den Punkt: «Du denkst, wir seien blöd, aber wir durchschauen dich. Du willst ein Brandstifter sein, aber es ist dir egal, was brennt. Hauptsache Feuer und Zerstörung.»

Jonas und Benjamin haben kaum Gemeinsamkeiten, ausser dass sie zufällig am selben Tag im August 1988 im selben Spital geboren werden. Ihre Wege kreuzen sich sporadisch. Die erste Begegnung endet bezeichnenderweise in einem Kampf auf dem Pausenplatz. Als junge Männer, da ihre fragilen Persönlichkeiten sowie ihre Körper bereits in so etwas wie eine schlüssige Form gebracht sind, erkennen sie sich gegenseitig in ihrer emotionalen und spirituellen Leere wieder, die sie gerne Nihilismus nennen würden. Jonas lebt da bereits in Eisenach, wo er Führungen durch ein Automuseum gibt, sich erst an links-, dann an rechtsextremen Anschlägen beteiligt und mit faschistoiden Preppern im Wald Nahkampf und Guerillataktik übt. Benjamin studiert Jura und langweilt sich; sein Ausbruch ist noch rätselhafter als der von Jonas, doch der endgültige Entscheid kommt schliesslich von ihm. «Sein Freund Benjamin war Öl im Getriebe und er war der Sand. Zusammen bildeten sie die Summe Null.»

Vom Ende zum Anfang

Zürcher beginnt seinen Roman mit der sinnlosen Tragödie von Benjamins Tod und zeichnet dann den Weg nach, der zu diesem geführt hat. Über verschiedene Stationen – vom Moment der Geburt über die Kindheit in der langweiligen Schweiz samt einigen fremd- und selbstverschuldeten Verlusterfahrungen – führt dieser schliesslich zum vermeintlich befreienden Entscheid, in den Krieg zu ziehen. Mit dieser Struktur unterläuft Zürcher den Aufbau von äusserer Spannung, was seinen Roman zur etwas frustrierenden Spurensuche werden lässt. Frustrierend nicht, weil die Spuren zu dünn gesät wären, sondern weil diese – und das ist programmatisch – zu keinen eindeutigen Antworten führen. Zwar glaubt man immer mal wieder, den besonderen Moment entdeckt zu haben, an dem der Schalter umgelegt wurde, der die Abwärtsspirale zum Drehen gebracht hat – nur um dann zu merken, dass man sich schon längst auf einer anderen, noch abgründigeren befindet.

Dass den LeserInnen ob diesem zur Sprache gewordenen Testosteronüberfluss bald etwas schlecht zu werden droht, kann man dem Roman kaum vorwerfen. Zürcher ist da in seiner Vermittlung einer männlichen Welterfahrung, die sich einzig über ihre Abneigungen definiert, nichts anderes als konsequent. Aber man muss das aushalten können. Die Jungs ficken, pumpen, saufen, sprechen über ihre «Schwänze» und philosophieren an Küchentischen über das kaputte System, das Männer wie sie keinen Sinn mehr erkennen lässt. Die Liebe könnte es vielleicht noch richten. Doch dazu fehlt ihnen schlicht die Sprache.

Urs Zürcher: Überwintern. Bilgerverlag. Zürich 2020. 431 Seiten. 36 Franken