USA – das Game: Schnitzeljagd in die Hölle

Nr. 2 –

Vom Onlineforum zum Aufruhr im Kapitol: Können sogenannte Alternate Reality Games die Wahnwelt der Trump-Fans erklären?

Irrwitziges war zu sehen, als ein von US-Präsident Donald Trump aufgestachelter Mob vergangene Woche das Kapitol attackierte: Südstaatenflaggen schwingende Rednecks, Leute in Fantasiekostümen und paramilitärischer Kluft, Plakate mit Parolen wie «Tötet die Medien» und «Die Kinder schreien nach Gerechtigkeit». Besonders verstörend wirkte aber die aufreizende Gelassenheit, die am Kapitol herrschte. Menschen mit roten «Make Amercia Great Again»-Mützen und «Q»-Aufnähern klatschten einander freudig ab, machten Selfies oder standen beisammen, um ein bisschen zu plaudern. Ganz so, als wäre das, was da gerade passiert, das Selbstverständlichste der Welt.

Besser lässt sich kaum illustrieren, dass ein Teil der US-Öffentlichkeit sämtliche Verbindungen zum «Mainstream» gekappt hat, um sich in einer Parallelwelt einzurichten. Wie sonst ist zu erklären, dass sich eine Trump-Anhängerin in einem Interview heulend darüber beklagt, beim Revolutionmachen Pfefferspray abbekommen zu haben – hat sie denn anderes erwartet? Oder dass ein Plünderer fröhlich dem Fotografen zuwinkt, der ihn bei der Ausübung eines Verbrechens ablichtet, das ihn für Jahre ins Gefängnis bringen könnte?

Karnevalesker Aufruhr

Auf diese neue Dimension des Realitätsverlusts zielte der Publizist Seth Abramson bereits Mitte Dezember in einem langen Twitter-Thread. Abramson, bekannt für umfassende Analysen auf dem Kurznachrichtendienst, strich darin heraus, dass man den QAnon-Kult, dem viele der Trump-Fans anhängen, längst nicht mehr allein mit Fake News erklären könne. Vielmehr handle es sich dabei um eine Art Rollenspiel, das aus dem Ruder gelaufen sei: Die Anhänger von QAnon seien in einem Alternate Reality Game (kurz: ARG) gefangen. «Genau darum können Spiele, die die Grenzen der Wirklichkeit überschreiten, so gefährlich sein», schrieb der Medientheoretiker. «Man kann vergessen, was Realität und was Spiel ist.»

Abramsons These erklärt die karnevalesken Züge des Aufruhrs am Kapitol: Bei manchen der Trump-Fans hätte man angesichts ihrer Kostümierung meinen können, sie wären für eine Game Convention nach Washington gereist. Von dieser Assoziation zeugte auch ein Meme, das im Netz kursierte und den inzwischen weltberühmten QAnon-Anhänger im Schamanenoutfit zeigte. In der Fotomontage wurde der Rechtsextreme zum Titelhelden des neusten Teils des Shooter-Games «Call of Duty» stilisiert, Titel der Episode: «Capitol Warfare».

Bei den Alternate Reality Games, die Abramson meint, handelt es sich allerdings nicht um Videospiele. Vielmehr sind ARGs eine multimediale Schnitzeljagd, bei der die Spielleiterin – im Fachjargon: «puppet master» – via E-Mail und Websites oder auch traditionelle Briefpost und Zeitungsannoncen die Teilnehmenden mit Hinweisen zur Lösung eines Rätsels füttert. Die Teilnehmenden müssen die Fährten aufspüren und gemeinsam deuten – am besten über Recherchen im Internet –, wo die Spielleiterin weitere Hinweise platzieren kann. In Onlineforen tauschen sich die Rätselnden miteinander aus, sodass das Ganze zu einem Gemeinschaft stiftenden Spass wird.

ARGs sind zwar eher ein Nischenphänomen, werden aber immer wieder zu PR-Zwecken verwendet. So wurde im Jahr 2001 Steven Spielbergs Blockbuster «A. I. – Künstliche Intelligenz» mit einem eigens entwickelten ARG namens «The Beast» beworben. Monate vor dem Kinostart stellte man in Zusammenarbeit mit Microsoft einen fürs Spiel programmierten Komplex an Internetseiten ins Netz. Dort fanden sich Hinweise zur Lösung eines mysteriösen Mordfalls im Zusammenhang mit dem Filmplot. Löste man ein Rätsel, gelangte man zu den nächsten Hinweisen, die auf Plakaten und in Filmtrailern versteckt waren.

Dasselbe erprobten PR-Leute ein paar Jahre später, als sie das ARG «Why So Serious?» lancierten, um damit Christopher Nolans Batman-Film «The Dark Knight» zu promoten – Millionen machten weltweit mit. Charakteristisch für solche Spiele ist, dass die Hinweise in der alltäglichen Umgebung der Teilnehmenden platziert sind: «Unser Konzept sah ein invasives Spiel vor, das die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen lässt», sagte 2001 einer der Microsoft-Entwickler von «The Beast» in einem Interview, voller Stolz.

Zwei Jahrzehnte später, in einer Ära, in der «alternative Fakten» und Verschwörungstheorien millionenfach geteilt werden, haben diese Sätze einen anderen Beiklang. Das dachte sich auch der Gamedesigner Adrian Hon, als er das erste Mal von QAnon hörte: Der Verschwörungskult erinnerte ihn frappierend an ein ARG, wie Hon dem US-Techmagazin «Wired» vor ein paar Monaten erzählte.

QAnon nahm seinen Anfang, als eine unbekannte Person unter dem Pseudonym Q 2017 damit begann, im Onlineforum 4chan zu posten. Dieser Q behauptet, er hätte Zugang zu höchsten US-Sicherheitskreisen. Seine Posts drehen sich um die globale Verschwörung eines kleinen Zirkels, dessen Mitglieder angeblich den Teufel anbeten, Kinder missbrauchen sowie Medien und Politik kontrollieren. Trump kommt darin die Rolle eines Heilands zu, dessen Mission in der Zerschlagung der Superverschwörung besteht.

Kryptische Andeutungen

Der Stil der Botschaften Qs ähnelt Gamedesigner Hon zufolge der Art, wie eine Spielleiterin ARGs dirigiert. Die sogenannten «Q drops» lesen sich kryptisch und animieren dazu, ihren Sinn zu deuten und eigene Recherchen anzustellen. Vergangenen Juni postete Q beispielsweise: «Kinder des Lichts gegen Kinder der Dunkelheit. Vereint gegen den unsichtbaren Feind der ganzen Menschheit.» Zuvor hatte er einige warnende Bemerkungen zur Europäischen Union fallen lassen. Und es dürfte wohl nicht lange dauern, ehe man bei einer eigenen Internetsuche nach dem «unsichtbaren Feind der Menschheit», der die Souveränität von Nationalstaaten bedroht, auf klassische antisemitische Erzählungen stösst.

Dass Q nicht einfach unverblümt sagt: «Die Juden sind unser Unglück!», ist aus spielerischer Perspektive zwingend notwendig, wie Reed Berkowitz unterstreicht. Auch dieser Gamedesigner verglich in einem Beitrag auf der US-Plattform Medium die Mechanismen von QAnon und ARGs. Ihm zufolge verlören Spiel wie Verschwörungserzählung ohne eine gewisse Unschärfe ihren Reiz. Dass es darum gehe, die Puzzleteile selbst zusammenzufügen, halte die Leute bei der Stange, weil dies die Belohnungsmechanismen des Gehirns aktiviere.

Letzte Brandmauern

Die Popularität rechtsradikaler Verschwörungstheorien lässt sich nun gewiss nicht allein durch neuronale Prozesse erklären; trotzdem ist der Vergleich zwischen Spiel und realem Irrsinn aufschlussreich. Er macht etwa plausibel, warum VerschwörungstheoretikerInnen immun gegen Faktenchecks sind: Wie bei einem ARG, das ja in der alltäglichen Umgebung stattfindet, gehört auch bei QAnon die «normale Realität» nahtlos zum Spiel dazu; das, was das Verschwörungsnarrativ zu widerlegen scheint, ist stets schon in dieses integriert.

Berkowitz berichtet zudem von einem Problem, das ARG-EntwicklerInnen immer wieder begegnet: Bisweilen sehen die SpielerInnen auch dort Hinweise, wo der «puppet master» gar keine hinterlassen hat. In einem von ihm selbst erlebten Fall, bei dem die TeilnehmerInnen einen Keller durchsuchen mussten, sei die Gruppe irgendwann überzeugt gewesen, dass hinter einer Wand der Schlüssel zum Geheimnis verborgen sein müsse – und machte sich daran, das Gemäuer einzureissen. Berkowitz intervenierte gerade noch rechtzeitig.

Wenig deutet darauf hin, dass jemand dem rechten Verschwörungsirrsinn in den USA und anderswo in ähnlicher Weise den Stecker ziehen könnte – längst haben sich Zigtausende an den Abriss der letzten Brandmauern zum politischen Wahn gemacht.