«La petite fille»: Man darf auch neugierig sein
Viele JournalistInnen scheinen überfordert mit dem Thema Transidentitäten. Dabei ist ein sensibler Zugang gar nicht so schwer, wie der Dokumentarfilm «La Petite Fille» beweist.
Sasha sagt: «Wenn ich gross bin, werde ich ein Mädchen.» – «Sasha wird von den Jungen zurückgewiesen, weil sie zu weiblich ist. Und von den Mädchen, weil sie für einen Jungen zu weiblich ist», sagt Sashas Mutter. Und die Ballettlehrerin: «Bei uns in Russland gibt es so etwas nicht.» Sasha ist sieben Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und drei Geschwistern in einer französischen Kleinstadt.
Sasha ist ein trans Mädchen. Bei der Geburt wurde Sasha dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Der genderneutrale Name: reiner Zufall. Seit Sasha eine Geschlechtsidentität hat, sagt sie, sie sei ein Mädchen. Eine Geschlechtsidentität bilden die meisten Menschen zwischen zwei und vier Jahren aus – auch Sasha.
Kampf um Anerkennung
Ein Jahr lang hat der französische Regisseur Sébastien Lifshitz die Familie für den Film «La Petite Fille» begleitet, auf eine unaufgeregte Art ihren Alltag dokumentiert – und den Kampf um Akzeptanz und Anerkennung. Das Thema Transidentität ist für viele Menschen der Mehrheitsgesellschaft relativ neu. Was neu ist, verunsichert, wirft Fragen auf. Das «Transthema» überfordert. Auch die Medien. Plötzlich wird über genderneutrale Toiletten diskutiert, über soziales Geschlecht, über Nonbinarität und Hormontherapien.
Wenig überraschend, tun sich einige Blätter schwer mit einer wohlwollenden oder zumindest nicht abwertenden Berichterstattung über trans Menschen – etwa die NZZ («Der Transgender-Trend birgt Gefahren»). Und in Roger Köppels «Weltwoche» scheint das Thema mittlerweile neben anderen Dauerbrennern wie AusländerInnen, armen Menschen und «den Linken» zum Standardrepertoire zu gehören. «Bedrohung der Kultur!» – «Gender-Diktatur!» – «Biologische Tatsachen», verkündet die «Weltwoche»-Kolumnistin Tamara Wernli da fast Woche für Woche unter höchstens oberflächlich unterschiedlichen Aufhängern. Und sie ist nicht allein. Von einer «gefährlichen Transgender-Ideologie» berichtete kürzlich die Datingpsychologin Barbara Beckenbauer – ebenfalls in der «Weltwoche». Wenige Wochen zuvor schrieb der Auslandchef Urs Gehriger vom «Transgender-Boom» und einer «Krise der psychischen Gesundheit». Und «Weltwoche»-Redaktorin Katharina Fontana hält fest: «Die Schweiz erlebt einen Transgender-Boom.» Dabei kann von einem «Boom» keine Rede sein: Offizielle Statistiken fehlen zwar, aber ForscherInnen gehen davon aus, dass sich im Schnitt eine von 200 Personen als trans identifiziert, was für die Schweiz circa 40 000 Personen wären.
In einer früheren Kolumne, diesmal in der «Basler Zeitung», sorgte sich Wernli bereits 2016 um die Gefühle der Mehrheitsgesellschaft, die durch das «Genderdiktat der Minderheit» mit deren Sprachregeln, Cis-trans-Bezeichnungen und Forderungen – manche so «radikal» wie etwa nach Gleichstellung – bedrängt werde: «Welchen Weg schlagen wir ein, wenn eine Realität nicht mehr auf biologischen Fakten basiert, sondern nur mehr auf subjektiven Emotionen?»
Ein «biologischer Fakt» war auch mal die Annahme, dass die Schädelgrösse mit der Intelligenz korreliere – und was wäre denn eine objektive Emotion? Ausserdem ist gerade die Biologie längst über die simple binäre Einordnung in Männlein und Weiblein hinweg.
Der Film «La Petite Fille» empfiehlt sich als Einstieg ins Thema – nicht nur für die Wernlis dieser Welt. Er eröffnet Zugänge zu Komplexen wie der medizinischen Geschlechtsangleichung, der medikamentös verzögerten oder ausgesetzten Pubertät, Hormontherapien und deren Nebenwirkungen. Er schaut nicht weg, wenn es um die beengende Irreversibilität mancher Entscheidungen geht. Lifshitz lässt das Publikum behutsam ans Thema herantreten und beantwortet zentrale Fragen, ohne voyeuristisch zu wirken. Er zeigt auch Intoleranz, Hass und Unverständnis. Unverständnis dafür, dass trans Personen und intersexuelle Menschen überhaupt existieren, dass es nun mal alle möglichen Ausprägungen zwischen den Polen «männlich» und «weiblich» gibt.
Keine Meinungsfrage
Auf eindrückliche Weise macht «La Petite Fille» klar: Die Existenz von Menschen wie Sasha ist keine Meinungsfrage. Es ist okay, neugierig zu sein. Es ist auch okay, etwas nicht auf Anhieb zu verstehen und sich über etwas zu wundern, was einem fremd erscheint. Auch für JournalistInnen. Es ist jedoch nicht in Ordnung, Unverständnis und Ressentiments als Meinung zu maskieren und gebetsmühlenartig jede Woche aufs Neue in eine Kolumne zu quetschen und sich dafür von AntifeministInnen und Rechten abfeiern zu lassen.
Am stärksten ist «La Petite Fille» dort, wo der Film Scham, Hass und Angst thematisiert. Sasha hat Angst, dass sie wegen LehrerInnen, die ihre Geschlechtsidentität nicht anerkennen, die Klasse wechseln muss. Sasha hat Angst, im Bikini gesehen zu werden, und Sasha hat Angst, FreundInnen nach Hause einzuladen, die dann ihr «mädchenhaftes» Zimmer sehen könnten.
Auch Sashas Mutter hat Angst. Angst vor der ersten Liebe ihrer Tochter, vor physischer und psychischer Gewalt, wenn Sasha älter ist, vor Übergriffen und Diskriminierung. Das sind sehr reale Probleme. Ganz im Gegensatz zum medial heraufbeschworenen «Trans-Gender-Boom».
«La Petite Fille» ist noch bis Ende Januar in der Arte-Mediathek frei zugänglich.
La Petite Fille. Regie: Sébastien Lifshitz. Frankreich/Dänemark 2020