Erwachet!: Trendsetten

Nr. 4 –

Michelle Steinbeck schaut auf Zürich

Ein Stadtzürcher Kind wächst im Glauben auf, dass heimlich alle ZürcherIn sein wollen. Deshalb, so der Mythos, seien wir Zürischnurren in der Agglo, also etwa in Olten oder Chur, derart unbeliebt: Purer Neid. Zürich-Neid. Von ausserhalb wurde diese plausible Erklärung bis anhin vehement bestritten. Das hat nun ein Ende. Luzern, Basel, Hamburg – die Welt schaut bewundernd und offen neidisch auf die gentrifizierte Bankenstadt und fordert: Mir wänn au vo Zyyri syy!

Wie kommts? Die Antwort klingt zu schön, um wahr zu sein: Zürich lanciert ein Grundeinkommen! Gut, es ist nicht die ganze Welt, die Jacqueline Fehr für diese Verkündigung zujubelt. Schliesslich handelt es sich erst einmal «nur» um ein fünfmonatiges Ersatzeinkommen für Kulturschaffende, die vom Auftrittsverbot betroffen sind.

Bereits machen diffamierende Aussagen über faule KünstlerInnen die Runde, die Systemrelevanz der Kultur wird einmal mehr angezweifelt und der Betrag als horrend eingestuft. Eine romantisierte Vorstellung des «vie de bohème» ist offenbar weitverbreitet: Demnach fläzen sich künstlerische Genies entweder auf einem bourgeoisen Anwesen oder nagen im Privileg des selbstgewählten Prekariats freudig am Hungertuch.

Wenn also wie jetzt der sichtbare Teil ihrer Arbeit – der öffentliche Auftritt – wegfällt, müssen sie für ihre Entschädigung besonders liefern. Gesuche schreiben, Formulare ausfüllen, die buchhalterischen Hosen runterlassen, fehlerhafte Entscheide anfechten; ausserdem an «kulturfördernden» Wettbewerben teilnehmen und mit innovativen Webformaten die Zukunft der Kultur erfinden, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu beweisen.

Wem diese Zeit und die Nerven gefehlt haben, der ist in den letzten Monaten ziemlich leer ausgegangen. Im Zürcher Modell soll das aufwendige, überdies teure bürokratische Vorgehen, das die Entschädigungen ungleich verteilt, durch einen einfacheren, solidarischeren Prozess abgelöst werden.

Die Frage, warum nur Kulturschaffende und nicht etwa andere Selbstständige vom neuen Modell profitieren sollen, ist berechtigt. Die Diskussion um Systemrelevanz hingegen ist müssig – Kultur soll gar nicht den Zweck haben, das bestehende System zu stützen. Im Gegenteil suchen wir doch in den Künsten einen Ausdruck der Freiheit, das «System» kritisch zu hinterfragen, sich ihm zu entziehen, Alternativen zu entwerfen. Eine Gesellschaft, die sich Kultur leisten und also mehr befriedigen möchte als lebensnotwendige Grundbedürfnisse, muss diese Arbeit als solche anerkennen. Und eine Stadt, die sich mit ihrer lebhaften Kulturszene schmückt und vermarktet, soll diese in der Krise angemessen entschädigen.

Die Pandemie hat uns allen nichts geschenkt. Wo sie zu Beginn leise Hoffnung auf einen Kurswechsel genährt haben mag, macht sich angesichts der Realität zunehmend Zynismus breit. Diese Nachricht aus Zürich sollten wir deshalb umso mehr feiern – und Druck machen, dass andere Kantone nachziehen. Wenn dieses Experiment glückt, werden weitere Hürden für ein flächendeckenderes Grundeinkommen fallen.

Sollten dann alle ihre Jobs künden, um sich als VollzeitkünstlerInnen zu «verwirklichen», werden sie sehen, dass 3840 Franken dafür gar nicht so übertrieben sind.

Michelle Steinbeck ist Autorin und für ein bedingungsloses Grundeinkommen.