Machtwechsel in den USA: Die Sache mit der Einigkeit

Nr. 4 –

Bereits hat der neue US-Präsident Joe Biden vieles aus der Ära Trump zurückgebaut. Nun will er die USA gemeinsam mit der demokratischen Kongressmehrheit in eine bessere Normalität führen. Besser für wen?

«Vereint können wir Grosses und Wichtiges leisten», sagte US-Präsident Joe Biden letzte Woche in seiner Antrittsrede vor dem Kapitol, wie das bei solchen Feiern üblich ist. Dabei stand er vor dem gleichen Gebäude, das zwei Wochen zuvor von teils bewaffneten Trump-AnhängerInnen gestürmt worden war. Im Vergleich zu Donald Trumps dunklem Geraune über ein drohendes «Blutbad in Amerika» vor genau vier Jahren waren dies hoffnungsvolle Worte, die sogar Senator Bernie Sanders, den stoischen Sozialisten aus Vermont, einen Moment lang zu Tränen rührten.

Ein paar Stunden später sass Joe Biden an seinem neuen Arbeitsplatz und unterschrieb eine präsidentielle Verfügung nach der anderen. Der rasante Start der neuen Regierung war von langer Hand geplant worden. PolitikberaterInnen hatten Bidens grosse Wahlkampfversprechen beizeiten in juristisch abgesicherte und politisch praktikable Aktionseinheiten zerlegt.

Weg mit den Mauern

Als Erstes machte der neue Präsident den Kampf gegen das Coronavirus zu seinem wichtigsten Regierungsgeschäft. Angesichts der akuten Gesundheits- und Wirtschaftskrise verlängerte er das Verbot, säumige Mieterinnen und Hausbesitzer zu räumen sowie den Schuldenaufschub für StudentInnen. Er stoppte den Bau der Grenzmauer zu Mexiko, hob das Einreiseverbot für Reisende aus «muslimischen Ländern» auf und sicherte den Aufenthaltsstatus von Menschen, die als Kinder in die USA gekommen waren. Er brachte das Land zurück ins Pariser Klimaabkommen und in die Weltgesundheitsorganisation WHO. Er zog die Bewilligung für die umstrittene Keystone-XL-Pipeline zurück. Er erneuerte die Rechte von LGBTQI* und von ethnischen Minderheiten am Arbeitsplatz. Und er entliess Trumps superpatriotische «1776 Commission», eine Gruppe von IdeologInnen, die die Geschichte der USA weisswaschen sollte.

Mit ein paar Federstrichen konnte Joe Biden einen Grossteil des politischen Vermächtnisses von Donald Trump zurückweisen. Denn dieser hatte ausserordentlich viel und gerne mit präsidentiellen Verfügungen regiert. Der ehemalige Fernsehstar liebte die Signierstunden vor laufender Kamera und brachte als Ex-CEO nicht die Geduld auf, seine Wünsche umständlich mit der Legislative abzusprechen, wie es zuvor Barack Obama zum Beispiel mit seiner Gesundheitsreform getan hatte.

Im Gegensatz zu Trump weiss Biden, der selber von 1973 bis 2009 im US-Senat politisierte, sehr wohl, dass Gesetze weitaus dauerhafter sind als blosse Dekrete. Gleich am ersten Tag schickte er deshalb auch zwei wichtige Vorlagen an den Kongress, in dem die DemokratInnen zurzeit eine hauchdünne Mehrheit innehaben: Erstens fordert er ein grosszügiges Stimuluspaket von 1,9 Billionen US-Dollar, das neben Direktzahlungen an US-BürgerInnen unter anderem einen deutlich höheren nationalen Minimallohn von fünfzehn Dollar pro Stunde beinhaltet. Und zweitens beantragt er eine umfassende Einwanderungsreform, die elf Millionen undokumentierten Menschen in den USA einen Weg zur Einbürgerung eröffnen würde.

Weniger weiss, männlich, chaotisch

Die Reaktion von rechts auf den demokratischen Aktivismus der ersten Stunde blieb nicht aus. Auf Twitter beschwerte sich der republikanische Senator Marco Rubio aus Florida: «Präsident Biden redet wie ein Zentrist und spricht von Einigkeit, doch er regiert extrem links.»

Wo man Joe Biden politisch einordnet, hängt natürlich vom eigenen Standort ab. Radikal links, sozialistisch oder gar kommunistisch ist der 78-jährige Berufspolitiker nur in der Fantasie der TrumpistInnen, die allerdings fast vierzig Prozent der US-Bevölkerung ausmachen.

Biden selbst versteht sich als Mitte-links-Demokrat. Man findet ihn seit jeher sicher eingebettet im Zentrum der politisch breit gefächerten Grosspartei. Von da aus bildet er jetzt auch sein Kabinett: Es ist weniger weiss, männlich und chaotisch als Donald Trumps Entourage, aber auch nicht viel anders, als Biden es gewohnt ist. Er hat auffällig viele Frauen und Männer vorgeschlagen, die er aus der Regierungszeit Obamas kennt. Das neue Kabinett wird daher viel ExpertInnenwissen mitbringen, aber auch viel Interessenbindung an die etablierte Politik und Wirtschaft. Wird es mehr sein als der alte Neoliberalismus im neuen, bunteren Kleid?

Erste Kabinettsmitglieder sind vom Senat bereits bestätigt worden: Finanzministerin Janet Yellen ist die erste Frau in diesem Amt. Sie gehört zu den wenigen fortschrittlichen ÖkonomInnen, die den Kampf gegen soziale Ungleichheit und Klimapolitik zuoberst auf ihre Traktandenliste gesetzt haben. Lloyd Austin ist der erste Schwarze Verteidigungsminister der USA. Er sass zuletzt im Direktorium des Rüstungsgiganten Raytheon Technologies – wo auch Mark Esper, sein Vorgänger unter Trump, angestellt war. Avril Haines, die neue Direktorin der Nachrichtendienste, arbeitete unter Obama für die CIA und vertrat bezüglich Drohneneinsätzen und der Offenlegung des CIA-Folterprogramms höchst fragwürdige Positionen. Und ja, auch sie ist die erste Frau in diesem Amt.

Vorläufiges Fazit: Links von Joe Biden gibt es viel Raum für Kritik. Und für politischen Druck. In seinem Regierungsprogramm fehlen mutige Entwürfe wie etwa für eine staatliche Gesundheitsvorsorge (Medicare for All). Oder für eine ökologische Umgestaltung der Industriegesellschaft (Green New Deal). Für ein bedingungsloses Grundeinkommen, kostenlose Bildung für alle, die Entmilitarisierung der US-Aussenpolitik, die Abrüstung der Grenzbehörde ICE. Für Alternativen zur neoliberalen Wirtschaftsordnung. Für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse und Polizei, oder zumindest weniger davon.

Insgesamt haben die Wahlresultate vom November gezeigt, dass kühne Ideen mobilisierend wirken, aber (noch) nicht mehrheitsfähig sind. Ein Grossteil der Bevölkerung will gerade jetzt, nach vier Jahren Melodrama und mitten in einer Pandemie mit bereits 420 000 Todesopfern, keine gewagten Experimente. Millionen Familien wissen nicht, wie sie die nächsten Monate finanziell überleben sollen. Das Vertrauen in die Demokratie befindet sich an einem Tiefpunkt. Ein Drittel der Stimmberechtigten verbreitet immer noch die Mär einer «gestohlenen Wahl». In dieser Mehrfachkrise verkörpert Joe Biden für viele die Rückkehr zu Bewährtem. Sie finden wie die demokratische Abgeordnete Debbie Dingell aus Michigan: «Einfach normal ist doch gut.»

Mit oder ohne RepublikanerInnen

Die neue Regierung macht sich allerdings kaum Illusionen über die Normalität der aktuellen Legislative. Die Mehrheit der republikanischen GesetzgeberInnen leugnete unmittelbar nach dem Sturm aufs Kapitol die Legitimität von Bidens Wahlsieg. Das laufende Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump wegen Anstiftung zum Aufruhr wird die Gräben im Zweiparteiensystem noch vertiefen und zudem viel Energie und Zeit beanspruchen.

Am Montag stellte Biden gegenüber den Medien klar, dass Einigkeit im traditionellen Zweiparteiensystem nicht unbedingt gleichzusetzen sei mit Überparteilichkeit. Stattdessen führe alles, was das Leben der Bevölkerungsmehrheit – unabhängig von der Parteizugehörigkeit – besser mache, zu mehr Einvernehmen und Einigkeit. Dazu zähle auch das neue Stimuluspaket, das von republikanischer Seite vehement abgelehnt wird. «Ist Arbeitslosenversicherung etwas, was nur die Demokraten im Land wollen?», hakte Bidens Pressesprecherin Jen Psaki nach. «Wollen nur Demokraten, dass ihre Kinder wieder zur Schule gehen können? Wollen nur Demokratinnen, dass Impfungen im ganzen Land verteilt werden?» Das Stimuluspaket sei wie geschaffen für eine Einigkeit, die diesen Namen auch verdiene.

Der Versuch der Obama-Regierung, Einigkeit mittels Kompromissen mit der Republikanischen Partei herzustellen, ist an deren Obstruktion gescheitert. Trumps «Einigkeit» war reiner Personenkult. Joe Biden sagt nun, er propagiere Anliegen, die die ganze Bevölkerung betreffen und deshalb überparteilich und ganzheitlich seien. Das ist eine interessante, fast schon linkspopulistische Ansage.