Bizarre Geschichten: Seiltanzen wie in einem Traum
Wunderbar weit weg von Faktenschwere und politischen Realitäten: Olga Tokarczuk schreibt in ihren surrealen Kurzgeschichten gegen die «schwere Krankheit der Wortwörtlichkeit» an.
«Mit einem Erdbeben beginnen, dann ganz langsam steigern» – ein inzwischen abgedroschener Ratschlag aus der Filmbranche, und doch, als künstlerisches Vehikel, vielseitig verwendbar. Auch Olga Tokarczuk mag in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Erzählband «Die grünen Kinder. Bizarre Geschichten» an diesen Kniff angedockt haben.
Denn schon mit der ersten der zehn Kurzgeschichten stösst die 58-jährige Literaturnobelpreisträgerin aus Polen ein delikates, inneres Beben an, das viele LeserInnen auch bei den folgenden Erzählungen begleiten dürfte. Da erzählt der «Passagier» von mächtigen Schattenfiguren und Ängsten aus Kindertagen, die Jahrzehnte unbemerkt überdauern können, doch letztlich in einer Katharsis münden: «Der Mensch, den du siehst, existiert nicht, weil du ihn siehst, sondern weil er es ist, der dich anschaut.»
Exzentrik als Methode
Dieser Gedanke ist auch den folgenden Erzählungen eingeprägt, die einen Hauch von magischem Realismus verströmen: Geschichten von Menschen sind es, die Unglaubliches und Surreales erfahren. Wie in der «Wahren Geschichte», in der ein schrulliger Professor der Einzige ist, der eine schwer gestürzte Frau retten will. Unversehens wird er selbst, durch eigene Fehlentscheidungen und gnadenlose gesellschaftliche Gleichgültigkeit, als Täter gebrandmarkt.
In der Erzählung «Die grünen Kinder», die dem Band ihren Titel gab, greift Tokarczuk jenen Begriff auf, den sie seit kurzem nachhaltig in der öffentlichen Debatte zu verankern sucht: «Ex-Zentrum». Ein Denken von den Rändern des Zentrums her sei dies, von der zivilisatorischen Peripherie. «Mit einem Zirkel», sagt der Ich-Erzähler, «könnte man Kreise um die Mitte schlagen», und je weiter man sich entferne, «desto brüchiger scheint die Welt zu werden, gleich einem moderfeuchten Leinen, das zerfällt». Eine fantastische Geschichte aus dem Jahr 1656, in der Tokarczuk kleine, subtile Wahrheiten andeutet. Für deren vollständige Dechiffrierung reiche Sprache allein nicht, «prägen uns doch die Ränder der Welt für immer eine rätselhafte Ohnmacht auf».
Geschichten ohne Abschluss sind es, mit beunruhigenden, aber auch offenen Enden. So etwa im Stück «Berg aller Heiligen», das in der Schweiz spielt. Eine todkranke polnische Psychologin wird beauftragt, Jugendliche, allesamt Adoptivkinder, ihrem berühmten Charaktertest zu unterziehen. Doch die Ziele des auftraggebenden Instituts bleiben nebulös. Die Erzählung ist in ihrem Schlussakkord mysteriös und mystisch zugleich: Vom Klonen ist die Rede und von Reinkarnation. Vielleicht knüpfte die Autorin durch die Wahl des Schweizer Ortes an Friedrich Nietzsche an, der in den Bergen um Sils-Maria einst das Wiederkehrende fand, oder an den «Zauberberg» Thomas Manns, den Tokarczuk alle paar Jahre neu liest, oder auch an C. G. Jung, den «privaten Meister» der ausgebildeten Psychologin Tokarczuk. Zusammen mit der abschliessenden Erzählung «Kalender der menschlichen Feste» bildet der «Berg aller Heiligen» einen der Höhepunkte des Buchs.
Das Besondere an dem Band ist der filigrane Balanceakt, Tokarczuks behutsames Beschreiten eines gespannten Seils, von dem aus sie Realismus und Fantastik, Absurdes und Tragisches trennt – und verbindet. Die Sprache ist hier, auch in der feinfühligen Übertragung Lothar Quinkensteins, ganz klar – und doch voller subtiler Metaphern.
Es sei kein Zufall, sagte die Autorin vor zwei Jahren, dass diese Kurzgeschichten direkt nach den «Jakobsbüchern» (2015) entstanden seien. Denn die sechsjährige Arbeit an jenem faktenlastigen Werk sei für sie derart erschöpfend gewesen, dass sie sich bei diesen «Bizarren Erzählungen» für eine gegenteilige Strategie entschied: «Jegliche Bremsen zu lösen und alles zu schreiben, was mir in den Kopf kam – wohl wissend, das dabei Sonderbares, Traumartiges, Groteskes herauskommen könnte.»
Die Verarmung des Sinns
Aus der Perspektive des Jahres 2020 wirken die auf Polnisch bereits 2018 veröffentlichten Geschichten weit entfernt von Tokarczuks aktuellem politischem Engagement: ihrem Widerstand gegen den Rechtsruck in Polen. Im letzten September lehnte sie die Annahme der Ehrenbürgerschaft in ihrer schlesischen Heimatregion ab, weil zugleich ein LGBTQ*-feindlicher Bischof geehrt werden sollte. Auch unterstützte sie die grossen Proteste gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze in Polen.
Exakt ein Jahr nach Erhalt des Nobelpreises hat sie ausserdem ein literarisch-publizistisches Projekt initiiert – unter dem Motto der bereits erwähnten «Ex-Zentrizität». Diese ist auch Thema im neuen Essayband «Der liebevolle Erzähler», in dem Tokarczuk das Potenzial der Literatur auslotet: «Eine schwere Krankheit der Wortwörtlichkeit zehrt an uns», schreibt sie in einem der Essays. Symptome seien «die mangelnde Fähigkeit, Metaphern zu verstehen, dann die Verarmung des Sinns für Humor» und das Nichttolerieren des Mehrdeutigen.
Ein natürliches Mittel gegen diese Krankheit sind auch die lesenswerten, in die Grundfarbe der Natur getränkten Geschichten aus «Die grünen Kinder».
Olga Tokarczuk: Die grünen Kinder. Bizarre Geschichten. Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag. Zürich 2020. 240 Seiten. 34 Franken