Literatur: Standortverschiebung des Denkens

Nr. 51 –

«Polen sollte so viele Flüchtlinge aufnehmen, wie es tragen kann», sagte die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk jüngst – eine provokante Aussage in einem Land, das von Nationalisten, die konstant gegen Geflüchtete hetzen, autoritär regiert wird.

In ihrem nun auf Deutsch erschienenen Band «Übungen im Fremdsein», der zwölf inhaltlich verknüpfte Essays vereint, geht es zwar nicht in erster Linie um Polen und auch nicht explizit um Politisches. Vielmehr befasst sich Tokarczuk darin mit biografischen, psychologischen und soziologischen Quellen des literarischen Schöpfungsprozesses. Doch im Hintergrund schwingt immer wieder Kritisches zu aktuellen politischen Zuständen mit, und auch die Pandemie schwebt über allem.

Um Neues und Fremdes geht es etwa im titelgebenden Essay. In dichter Prosa legt die 59-Jährige dar, dass ihr einst die Lektüre von Jules Verne klargemacht habe, wie «der Mensch des Westens auf Reisen» geht und dabei trotz des angetroffenen Fremden der Gleiche bleibe. Zu beobachten sei dieses Muster in popkulturellen Werken und auch im Massentourismus. Sie beschreibt nüchtern, wie sich der «All-inclusive-Tourist» in türkischen Seebädern alle Mühe gibt, «nicht daran zu denken, dass ein paar Hundert Meter weiter die Leichen von Flüchtlingen an den Strand gespült werden».

Die Pandemie sei indes als «Schwarzer Schwan» in die Welt eingefallen, schreibt sie in einem anderen Essay und nimmt dies zum Anlass, zu einer Standortverschiebung des eigenen Denkens zu ermuntern. Unter den Folgen der Pandemie sei die einschneidendste, «dass das tief verinnerlichte Narrativ vom Menschen als Herrn der Schöpfung, der Kontrolle über die ganze Welt besitzt, einen Bruch erfahren hat». Was also, fragt sie, wenn «wir die ausgetretenen Pfade unserer Überlegungen, Gedanken, Diskurse verliessen und uns aus den Systemen von Blasen hinausbegäben?»

Tokarczuk plädiert dafür, nicht nur die Literatur, sondern auch die Welt nicht wörtlich zu deuten und zu interpretieren, denn Buchstäblichkeit zerstöre «das Gespür für das Schöne und Sinnhafte, weshalb sie auch keine tiefgründige Vision der Welt hervorbringen kann».

Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein. Essays. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag. Zürich 2021. 320 Seiten. 33 Franken