Sophie Xeon (1986–2021): Unfassbar bis in den Tod
Nachdem Sophie an der Bad Bonn Kilbi 2019 spätnachts eine überwältigende, vor Liebe für Mensch und Maschine strotzende Show gespielt hatte, brachte sie ein Fahrer des Festivals am nächsten Nachmittag zum Flughafen Zürich. Sie sass erst auf der Rückbank, werkelte am Handy und nahm MDMA, bevor sie sich neben den Fahrer setzte und sie ein angeregtes Gespräch über Beziehungsformen und Liebe führten, wie dieser erzählt. An der Raststätte Gunzgen Süd betraten sie einen Sexshop. Begeistert untersuchte Sophie die diversen Toys, flirtete mit der Angestellten und schien die Anonymität zu geniessen, bevor es weiterging.
Wo Sophie auftauchte, geschahen unvorhersehbare Dinge; das war in der Popmusik, die sie in den letzten knapp zehn Jahren als Produzentin, Sängerin und Erfinderin queerer Identitäten geprägt hatte, nicht anders. Sophie Xeon wurde 1986 in Glasgow geboren und begann ab 2013, Musik zu veröffentlichen, die sich zwischen Plastikpop und abstrakter Elektronik, zwischen dem Kitsch der Konsumwelt und digitaler Bewusstseinserweiterung bewegte. Sophie glaubte an die einende und euphorisierende Energie des Pop wie an die Innovationskraft des Computers als Quelle neuer Sounds, aber auch neuer Bilder des Menschen. Lange hielt Sophie ihre Identität und ihr Geschlecht bedeckt, bis sie 2017 im Videoclip zu ihrer entrückten Powerballade «It’s Okay to Cry» als unfassbares und wunderschönes Wesen erschien. Obwohl Sophie weibliche Pronomen für sich verwendete, beschrieb sie ihr Geschlecht als «vaping», verdampfend.
Als Produzentin und Songwriterin arbeitete sie für Popsängerinnen wie Charli XCX, Madonna oder MØ sowie für RapperInnen wie Vince Staples, Gaika oder Shygirl. Auch wenn sie nicht im Vordergrund stand, war ihre Handschrift stets erkennbar. Der Höhepunkt ihres Solowerks war das 2018 erschienene Album «Oil of Every Pearl’s Un-Insides» (man liest «I love every person’s insides»). In der Drastik seiner digitalen Sounds ist dieses Album zuweilen verstörend, in seinen grotesken Montagen auch unglaublich witzig und in seiner authentischen Freude ungemein berührend – ein komplexes Meisterwerk, das die Popwelt noch lange beschäftigen wird.
Sophie Xeon sei am Samstag an ihrem Wohnort Athen gestürzt, als sie dem Vollmond entgegengeklettert sei. Eine mysteriöse Gestalt, bis in den Tod.