Charli XCX: Dieses Schillern
Älterwerden im Clubkontext: Charli XCX ist auf ihrem grossartigen neuen Album so hedonistisch und exzessiv wie je, zweifelt, trauert und denkt übers Kinderkriegen nach.
War ein bisschen scheisse bisher, der Sommer, aber nur draussen. In manchen Ecken des Internets ist er seit zwei Wochen limettengrün, heiss und schwitzig: Hocheuphorisiert wird gerade der «Brat Summer» ausgerufen, benannt nach Charli XCX’ neustem Album, grünes Cover, wie all ihre Alben mit einem schlecht aufgelösten Arial-Narrow-Font beschriftet: «Brat». Dazu passen ein Goth-inspiriertes, an die neunziger Jahre angelehntes Low-Waist-Jeans-Outfit, Sonnenbrille, als Proviant höchstens Kaugummis und Traubenzucker. «Brat» eröffnet mit «360», einem poppigen Clubtrack; später kommt er noch mal, als Reprise oder als Perversion im besten Sinn: «365» schliesst das Album, fast jede Zeile ist hier eine Anspielung auf lustvollen, exzessiven Drogenkonsum. Das Beste am «Brat Summer» ist ja, dass er vollständig drinnen stattfinden kann, im Internet und im Club. Es ist diese Schnittstelle, an der Charli XCX’ Musik stattfindet.
Hochgradig fruchtbar
Charli XCX, indisch-britische Künstlerin, 31 Jahre alt, gibt es schon ewig, zumindest in Plattformzeiträumen. 2008 hat sie ihre ersten Sachen auf Myspace rausgebracht, bald darauf wurde sie von einem Londoner Partyveranstalter entdeckt, der illegale Warehouse-Raves organisierte. Dort spielte sie ihre ersten Gigs. Nuller-Jahre-Internet, London und illegale Raves als Ausgangspunkte für ihre Musik stellten sich, gerade in ihrer Kreuzung, als hochgradig fruchtbar heraus. Charli XCX war mit ihren Produktionen massgeblich an der Entwicklung von Hyperpop beteiligt, einem in den zehner Jahren entstandenen, zwischendurch stark gehypten Genre: von Eurodance ebenso inspiriert wie vom zuckrigen Pop der neunziger und nuller Jahre, hauptsächlich elektronisch, mit vielen überdrehten Ideen. Wie schon früher hat Charli für «Brat» mit A. G. Cook zusammengearbeitet, der bis 2023 das Label PC Music führte und damit Hyperpop als Stil und als Szene (mit-)begründete.
Ob das Underground ist oder Mainstream, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Die Produktionen der 2021 verstorbenen, mit PC Music eng verbundenen Hyperpop-Übermutter Sophie etwa waren anspruchsvoll und wild, zu sperrig auf jeden Fall für gradliniges Hören und Abspielen, und erreichten trotz oder gerade wegen dieses Schillerns ein Millionenpublikum. Auch Charli XCX bewegte sich lange an der Grenze zwischen do it yourself und grosser Popproduktion. Ihr letztes Album, «Crash» (2022), war dann gewissermassen ein Konzeptalbum: Ein möglichst mainstreamiges Charli-Album sollte es werden, nah an Pophörgewohnheiten. Hat funktioniert, «Crash» wurde ihr bis dahin erfolgreichstes Werk – allerdings nicht so erfolgreich wie «Brat», das schon am ersten Veröffentlichungstag dreimal mehr Streams hatte als der Vorgänger innerhalb einer Woche.
Charli XCX, im Mainstream angekommen? Sie hegt daran einigen Zweifel, wie sie ihn etwa in «I Might Say Something Stupid» äussert: Sich an einer Party klein und unscheinbar zu fühlen, das passiert offenbar auch ihr noch. Zumindest Taylor Swift sieht Charli XCX allerdings durchaus als Konkurrentin: Als alles danach aussah, dass «Brat» auf Platz eins der britischen Albumcharts einsteigen würde, brachte Swift kurzerhand sechs weitere, nur in Grossbritannien erhältliche Versionen ihres aktuellen Albums heraus, um sich den Platz an der Spitze zu sichern; es gibt davon nun insgesamt 34. Hat sies tatsächlich wegen Charli getan? Man darf nur vermuten. Das Image als kontrollverrückter, humorloser Megastar hat Swift sowieso bestätigt.
Im Ü30-Gedankenkarussell
Charli XCX wirkt dagegen umso unverschämter. Ein paar Tage nach dem Erscheinen von «Brat» kam «Brat and it’s the same but there’s three more songs so it’s not» – schon möglich, dass es eine Spitze gegen die releasewütige Swift war. Das Album ist voller lustiger Einfälle, weniger poppig, aber nicht unbedingt weniger eingängig als «Crash». Oft wähnt man sich beim Saufen mit Freund:innen, von Heulen bis Durchdrehen ist alles dabei. «I Think about It All the Time» klingt wie ein im Schlafzimmer aufgenommener Gitarrenschrummelsong, aber in elektronisch. Hier geht nach dem Besuch bei befreundeten frischgebackenen Eltern das Ü30-Gedankenkarussell los: Sollten wir aufhören zu verhüten, was würde das für meine Karriere bedeuten, und wann ist es zu spät?
«Sympathy Is a Knife» und «Girl, So Confusing» pumpen fröhlich voran, inhaltlich nehmen sie die Unsicherheit von «I Might Say Something Stupid» auf: Es geht um die Ambivalenz von Frauenfreundschaften innerhalb einer konkurrenzgetriebenen Musikindustrie. Besonders berührend ist auch «So I», eine Ballade, in der Charli den Tod von Sophie reflektiert, mit der sie für verschiedene Produktionen zusammengearbeitet hat: ein vielschichtiges Lied über Trauer, über den Umgang mit der hochtalentierten Freundin, deren Genialität so einschüchternd wirkte. «It’s Okay to Cry» heisst einer von Sophies grössten Songs, also, singt Charli hier, tue sie das jetzt auch. Diese so fragilen Texte passen erstaunlich gut zur basslastigen Clubmusik, dem Hedonismus von «Brat». Weinen kann man schliesslich gut auch in der Disco, nahe am Exzess.