Fiktive Folklore: Chaos, Drama, Ekstase

Nr. 6 –

Von traditioneller Musik ausgehend, gelangen DakhaBrakha aus der Ukraine und Širom aus Slowenien an ganz unterschiedliche Orte. Das klingt psychedelisch, irritierend, manchmal gar transzendent. Auf alle Fälle: berauschend.

In Fellhüten bis zur Trance: DakhaBrakha, postmoderne Folkband aus Kiew. Foto: Andriy Petryna

Dass repetitive Rhythmen über eine gewisse Dauer eine besondere Wirkung entfalten, ist der Musik seit ihrem Ursprung im kultischen Ritual eingeschrieben. Man findet diese Wirkung in der klassischen Kirchenmusik und bei den die Körper direkt in Schwingung versetzenden Bässen in den modernen Tanztempeln. Musik ist Ritual und Identität – wenn auch nur noch selten im direkt religiösen Sinn.

Auch zwei zeitgenössische Bands aus Osteuropa mit einer ähnlichen Philosophie, was das postmoderne Arrangement ihrer traditionellen Instrumente und Melodien betrifft, produzieren am Ende gänzlich unterschiedliche Atmosphären und Wirkungen. Auf ein Bild gebracht, entspricht die Musik der ukrainischen Gruppe DakhaBrakha einem schamanistischen Tanz bis zur körperlichen Verausgabung, während man mit Širom aus Slowenien auf einem vermeintlich harmlosen Spaziergang bald einmal vom Weg abkommt und sich hoffnungslos im musikalisch wuchernden Dickicht verirrt.

Sinn für Dramatik

Zunächst sind es aber die Gemeinsamkeiten, die ins Auge fallen. Im Unterschied zur zeitgenössischen elektronischen Musik, zu der PartygängerInnen mithilfe synthetischer Substanzen die verlorene Transzendenz wiederzuerlangen versuchen, entspringen die Klänge dieser zwei Bands fast ausschliesslich akustischen Quellen: Trommeln, Akkordeons, Cellos sowie bis zum Äussersten strapazierten Stimmbändern im Fall von DakhaBrakha; Banjos, Harfen und Instrumenten mit schönen Namen wie Balafon, Kalimba und Bendir bei Širom. Als «Ethno-Chaos» bezeichnen Erstere ihre Musik, als «imaginary folk» die anderen.

Das Prinzip ist ähnlich: Vom lokalen folkloristischen Erbe ausgehend, übernehmen die Bands Instrumente, Harmonien, Rhythmen und Gesangsweisen verschiedenster osteuropäischer, aber auch globaler Musiktraditionen bis hin zu Rap. Das Resultat lässt sich am Ende keinem spezifischen Ort mehr zuordnen, ausser vielleicht dem Reich des Chaotisch-Imaginären. Es ist der zu Klängen und Gesängen gewordene vermeintliche Widerspruch einer fiktiven Folklore; Weltmusik im wörtlichsten Sinn, in der jeder denkbare Affekt möglich ist.

Dass DakhaBrakha (Ukrainisch für «geben/nehmen») einen Sinn fürs Dramatische haben, kommt nicht von ungefähr. Gegründet wurde die Gruppe 2003 innerhalb des Kiewer Avantgardetheaters Dakh. Mit ihren hohen Fellhüten und den nur auf den ersten Blick traditionell wirkenden Kostümen sehen die vier Bandmitglieder aus wie ein exzentrischer Dorfchor aus einem der traumartig folkloristischen Filme von Sergei Paradschanow. Obwohl viele ihrer Songs nach ähnlichen Strukturen aufgebaut sind, klingt kein Moment aus dem Œuvre der über fünfzehnjährigen Band wie der andere. Ihre sieben Alben unterscheiden sich nicht nur über die unterschiedlichen Einflüsse, die darin verarbeitet sind, sie könnten gar von verschiedenen Gruppen aus verschiedenen Ländern und Epochen stammen.

Schreie und Flüstern

Zwei Songs vom Album «Na mezhi» (2009), «Vesna» und «Zainka», dauern beide um die acht Minuten, wobei die Hälfte dieser Zeit für den unnachgiebigen Aufbau einer vom Rhythmus bestimmten Emotion aufgewendet wird. Während das Tempo konstant bleibt, steigert sich in «Vesna» die Intensität der Ziehharmonika fast unmerklich langsam, bis sie sich schliesslich in einem tranceähnlichen Zustand eingerichtet hat. Irgendwann, wenn man bereits jegliches Zeitgefühl verloren hat, setzt die Perkussion ein, um sogleich von einem sonderbaren weiblichen Obertongesang wie aus einer anderen Dimension übertönt zu werden. Erst jetzt setzt der eigentliche Gesang ein, mit zwei oder vier oder unendlich vielen Stimmen und einer Harmonie, in ihrer scheinbaren Zufälligkeit atemberaubend schön, bevor der Song nur mit der Ziehharmonika wieder leise ausklingt. Es fühlt sich an, als hätte man in diesen acht Minuten eine Reise von einer prähistorischen Einsamkeit zu einer gemeinschaftlichen, lichtdurchfluteten Apokalypse durchgemacht.

In «Zainka», obwohl es unmöglich scheint, steigern DakhaBrakha die Dramatik noch, mit einem Cello, das erst nur alle paar Sekunden angespielt wird, bis eine Harmonika für Tempo zu sorgen beginnt und sich im Hintergrund ein Frage-Antwort-Dialog zwischen einer männlichen und einer weiblichen Stimme abspielt, die zwischen Flüstern und Schreien variiert und sämtliche Variationen von Schmerz und Freude in der Welt zu streifen scheint.

Auf «Light» (2010) sind solche transzendenten Momente seltener, dafür werden die Melodien eingängiger, die Texte mehrsprachiger und die Instrumente vielseitiger. «Baby», auf Spotify der populärste Track von DakhaBrakha, bedient sich eines elektronischen Pianos und einer Songstruktur, die an Popmusik erinnert, dabei aber weder auf die psychedelischen Harmonien verzichtet noch einen ahnen lässt, in welche Richtung sich der Song entwickeln wird. Auf ihrem neusten Album «Alambri» (2020) schliesslich, das die Gruppe in Brasilien eingespielt hat, lassen sich zwischen den einzelnen Tracks kaum mehr strukturelle Gemeinsamkeiten herauslesen, ausser dass die Gruppe meisterhaft darin ist, zahlreiche Musiktraditionen in ihren Sound aufzunehmen und daraus ein zwar chaotisches, aber definitiv nicht unharmonisches Ganzes zu kreieren.

Tempo ist Ansichtssache

Während die Songs der UkrainerInnen stets irgendwohin drängen – nach vorne, nach oben, anderswo hin –, scheint die Strategie des slowenischen Trios Širom weniger klar definiert. Irgendwo zwischen dem Minimalismus von Steve Reich und Terry Riley – allerdings mit jazzartigen Strukturen und einer kulturell experimentierfreudigen Instrumentierung – lässt es sich zu dieser Musik eher nicht in Trance tanzen. Angenehm verpeilte Rhythmen scheinen ständig vom Weg abzukommen, um abseits neue Erkenntnisse zu gewinnen und mit diesen dann quer durch einen dichten Wald aus Klängen zu stolpern.

Die Musik von Širom fühlt sich – nicht nur wegen surrealistischer Songtitel wie «A Washed Out Boy Taking Fossils from a Frog Sack» – literarisch an. Sie eignet sich erstaunlicherweise genauso gut als Lesemusik wie zur Unterstützung der Wirkung psychoaktiver Substanzen – wobei Letztere eigentlich fast überflüssig sind. Instrumente lösen sich willkürlich ab, Rhythmen schlagen Haken, und Tempo ist Ansichtssache: wohltuende Irritation. Die ethnologische Einordnung einer Melodie wird – nicht nur wegen des nicht sprachlichen Einsatzes der Stimme – immer fast, aber nie ganz möglich gemacht. Wahrscheinlich ist es besser, wenn man sich dieser Musik einfach ergibt.