Kost und Logis: Nur noch eine Sorte Leute

Nr. 6 –

Bettina Dyttrich vermisst Menschenmengen

Der Bahnhof ist zum Ersatz für den Ausgang geworden. Er ist halbwegs laut, und es hat Leute. Einige diskutieren mit den Securitys, daneben steht eine Gruppe Punks, Masken am Kinn, ziemlich verpeilt, und sie singen … O nein. Nicht schon wieder Patent Ochsner in dieser Kolumne.

Ich traue mich nicht, ihnen ein anderes Lied vorzuschlagen, denke nur: Öffentlichkeit. Menschen. So schön.

Dabei habe ich ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Menschenmengen. Sie werden mir schnell zu viel, spätestens dann, wenn ich mittendrin stecke und mir vorstelle, jetzt könnte eine Massenpanik ausbrechen. Gleichzeitig stehen sie für etwas, das gerade sehr fehlt: das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein. Am Frauenstreik 2019 fand ich den idealen Ort für mein Dilemma: Etwa anderthalb Stunden stand ich auf einem Elektrokasten am Rand des Bundesplatzes. Dort konnte ich mich als Teil der Menge fühlen und hatte doch den Überblick.

Auf den langen Lockdownvelotouren im Frühling dann das irritierende Gefühl: Ich finde die Stadt nicht mehr. Es gibt kein Zentrum mehr. Ohne Menschen bleibt nur eine Landschaft aus Steinblöcken. Wo finde ich es dann, das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein? Ist es sowieso eine Illusion, etwas Flüchtiges, dem wir nachjagen und dabei Social-Media-Konzerne und Billigairlines reich machen?

Als Linke finden wir Verbindung, Vernetzung, Kontakt grundsätzlich positiv, und das ist auch gut so. Aber die Sache ist leider ambivalenter, als wir es gerne hätten – nicht nur, weil die hyperglobalisierte Welt in Pandemiezeiten so erschreckend verletzlich ist. Vernetzung verbreitet befreiende Ideen, aber auch Verschwörungserzählungen und Gier (all die Konsumgüter auf Instagram …). Sie kann wunderbare kulturelle Kollaborationen ermöglichen, aber auch sinnvolle lokale Lösungen peinlich und altmodisch erscheinen lassen – klar will die Jugend lieber Fast Fashion aus Kunstfasern als die Wolle vom Grosi. Sie kann so energieintensiv werden, dass sie mit ihren Flugzeugen, Containerhäfen und Autobahnen die Welt überfordert. Und Easyjet-Tourismus fördert meistens weder Begegnung noch Aufklärung.

In den meisten Öko(quartier)utopien möchte ich aber auch nicht leben. Nicht weil es keine Billigflüge und Fast Fashion mehr gibt, sondern weil sie klingen, als gäbe es nur noch eine Sorte Leute. Ja, die Quartiere werden eine wichtige Rolle spielen in jeder zukunftsverträglichen Zukunft. Aber sie dürfen auf keinen Fall zu homogen sein, sonst wird es nicht nur in den Köpfen eng. Wir müssen es schaffen, die Verbindung zur Welt ins Quartier zu holen.

Gleichzeitig braucht es Möglichkeiten, Kontakte über weite Distanzen zu pflegen, also digitale Infrastruktur. Und die müssen wir zuerst den neofeudalen Konzernen entreissen. Ja, das klingt jetzt sehr pathetisch – aber es geht ja auch um einen Kampf von epischen Dimensionen.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin und versucht, dem Lockdownfrust zu Fuss zu entkommen.