Kapitalismus: Leidenschaftlich im rasenden Inferno

Nr. 25 –

Wege aus der Katastrophe: Während Nancy Fraser in ihrem neuen Buch die Megakrise der Gegenwart kartografiert, lotet Chantal Mouffe die mobilisierende Macht der Affekte aus.

Polizist:innen bei einer ­Protestaktion 2019 in der deutschen Braunkohlegrube Garzweiler
«Kannibalischer» Kapitalismus, der seine eigenen Grundlagen untergräbt: Bei einer ­Protestaktion 2019 in der deutschen Braunkohlegrube Garzweiler. Foto: David Young, Keystone

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat kürzlich in der NZZ eine bemerkenswerte Studie zitiert. Demnach glauben ganze 84 Prozent der Deutschen, dass es künftigen Generationen schlechter gehen werde als ihnen heute. Bloss ein Fall von «German Zukunftsangst»? Wohl leider nicht: Die Lage eines brennenden Planeten, auf dem die Staatenordnung aus den Fugen ist und der Autoritarismus floriert, liesse sich auch objektiv als desaströs beschreiben.

Kein Wunder, kennt die Psychologie inzwischen Leiden mit Bezeichnungen wie «Climate Doomism». Nancy Fraser sucht bei der Krisenbewältigung trotzdem die Konfrontation: Die US-Philosophin bemüht sich schon seit geraumer Zeit um eine Kartografie der globalen Katastrophe, die, so ihre Kernidee, als Folge mehrerer selbstzerstörerischer Dynamiken des Kapitalismus interpretiert werden müsse.

Frasers jüngste Studie ist ein sehr lesenswertes Kompendium zu den Krisen der Gegenwart. Deren Zusammenhang stiftet ihr zufolge die herrschende Gesellschaftsform – die Philosophin betreibt eine Art kapitalistische Widerspruchsforschung. Das mag angestaubt klingen, danach, was man in der linken Debatte häufig als «Ökonomismus» bezeichnet hat: eine Fixierung auf die Fabrik und die Arbeiter:innen. Fraser aber umgeht diese Falle, indem sie für eine Begriffserweiterung wirbt. Sie denkt «Kapitalismus» nicht bloss ökonomisch, sondern als «institutionalisierte Gesellschaftsordnung», die zwar auch eine besondere Form des Wirtschaftens definiert – aber eben nicht nur.

Flexibel und umkämpft

Vielmehr würden diese Ordnung diverse strukturelle Grenzziehungen kennzeichnen: diejenigen zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen Wirtschaft und Gemeinwesen, zwischen Ausbeutung und Enteignung, zwischen Natur und Mensch. Wo exakt diese Grenzen verlaufen, sei nicht ein für alle Mal fixiert, sondern flexibel und umkämpft: Historisch geriet der Kapitalismus schon mehrfach in schwere Turbulenzen, was zur Ablösung einer seiner Formen durch eine neue führte – etwa des «liberalen Kapitalismus» des 19. Jahrhunderts durch den staatlichen Interventionismus nach 1945.

Wie das zu verstehen ist, veranschaulicht etwa die Kluft zwischen Produktion und Reproduktion: Care-Arbeit ist Basis jeder Gesellschaft, doch gilt sie im Kapitalismus nicht als «richtige» Arbeit und wird nicht entlöhnt. Wie genau das Verhältnis zwischen Produktion und Reproduktion heute, im Zeitalter von Prekarisierung und Individualismus, ausgeprägt ist, unterscheidet sich trotzdem etwa vom Jahr 1950, als die patriarchale Kleinfamilie mit männlichem Alleinverdiener die Norm war.

Frasers Originalität liegt aber vor allem darin, dass sie analog dazu andere kapitalistische Aussenbezirke und deren Wechselwirkungen in den Blick nimmt. So gilt dem Kapital auch die Natur als eine Sphäre voller Dinge, «die keinen Wert haben, sich aber unendlich selbst reproduzieren und allgemein zur Verarbeitung in der Warenproduktion zur Verfügung stehen». Ebenso sichern rassistische Spaltungen Zusatzprofite, wenn nichtweisse Arbeiter:innen nicht dem «normalen» Lohnregime unterworfen werden, sondern entrechtet oder enteignet werden.

Dieses Panorama der Krisenherde – von institutionalisiertem Rassismus über die Klima- und Sorgekrise bis hin zur «Postdemokratie» – bringt Fraser auf einen schillernden Begriff: Der Kapitalismus sei «kannibalisch», denn er untergrabe seine eigenen Grundlagen. Einerseits sei er auf nichtökonomische Sphären wie die Natur angewiesen, andererseits aber wirke er gerade dort besonders zerstörerisch. Die Erderhitzung ist dafür nur der augenfälligste Beleg: Das Kapital verwandle das gesellschaftliche Naturverhältnis, so Fraser, in ein «rasendes Inferno».

Aber auch etwa für Ökonomie und Politik gilt: Zwar braucht Erstere eine Rechts- und Eigentumsordnung, doch befeuern die in der Ära des Finanzkapitalismus verstärkten Versuche, den Staat aus dem Markt zu drängen, eine «Krise der Demokratie», die die Ordnung insgesamt bedroht – man denke nur an den Trumpismus in den USA.

Frasers Buch ist damit nicht einfach Erbauungsliteratur für die linke Bubble, wie etwa «Die Zeit» ätzte, sondern eine Streitschrift für eine aus der Mode geratene Kategorie: Will man verstehen, wie alles mit allem zusammenhängt, ist es der Philosophin zufolge zwingend, am Begriff der Totalität festzuhalten. Das Soziale lässt sich nicht in kontingente Einzelerscheinungen auflösen.

Politisch müsse, folgert Fraser, der Antikapitalismus das Gravitationszentrum des Widerstands sein. Eine zahme Diversity-Politik, die den destruktiven Gesamtzusammenhang ignoriert, würde genauso wie eine Ökobewegung, die auf einen «grünen Kapitalismus» hofft, die Krise nur verlängern. Frasers Studie zielt daher auf eine umfassende Transformation hin zum «Ökosozialismus».

«Grüne demokratische Revolution»

Hier zeigt sich ein deutlicher Dissens gegenüber Chantal Mouffe, einer anderen wirkmächtigen Theoretikerin der jüngeren Vergangenheit. Auch von ihr ist ein neues Buch erschienen, das um die Vielfachkrise kreist. Mouffe aber traut Sozialismus wie Antikapitalismus nur noch wenig Mobilisierungspotenzial zu und wirbt lieber für eine «Grüne demokratische Revolution».

Zunächst geht es ihr jedoch um eine Verteidigung der linkspopulistischen Strategie, die sie mit ihrem Mann, dem 2014 verstorbenen Ernesto Laclau, entwickelt hat. Dieser Linkspopulismus hatte aufstrebende Parteien wie Podemos in Spanien massgeblich beeinflusst, zuletzt allerdings an Fahrt verloren. Für Mouffe ist das kein Anlass zur Revision: Rückschläge seien unbestreitbar, schreibt sie, «jedoch kann man eine politische Strategie nicht aus dem alleinigen Grund verwerfen, dass manche ihrer Anhänger ihre Ziele nicht auf Anhieb erreicht haben». Ausserdem sei etwa die britische Labour Party bei der Wahl 2019 gerade deswegen gescheitert, weil sie von der polarisierenden Strategie von 2017 («For the many, not the few») wieder abgerückt sei.

Während Frasers Buch Organisationsfragen eher am Rand berührt, wirkt Mouffe hier wie eine PR-Beraterin, die sich im Klein-Klein zu verlieren droht. Interessanter sind die Passagen, in denen sie sich für eine Rehabilitation politischer Affekte einsetzt. In der Politik habe man «es immer mit kollektiven Identitäten zu tun», schreibt sie, allerdings formierten sich diese nicht rein intellektuell – was für Mouffe erklärt, warum sich die Linke heute anders als die Rechte so schwertut, gesellschaftliche Wut zu kanalisieren.

Ein zu rationalistisches Politikverständnis drohe nämlich die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Mouffe erinnert hier unter anderem an den Philosophen Ernst Bloch, der schon in den Dreissigern notierte, wie die Nazis soziale Frustrationen für ihre Politik der Vernichtung zu kanalisieren wussten, während Linke mit eher abstrakten Ideen weniger Gehör fanden.

Augenfällig an Mouffes Buch ist aber ihr Desinteresse an einer eigentlichen Gesellschaftsanalyse – ein Zug, der ihr Werk seit jeher kennzeichnet. Das Soziale reduziert sich hier auf ein Zeichenspiel, in dem um Hegemonie gerungen wird. Der Versuch, Gesellschaft als Ganzes auf den Begriff zu bringen – das, was etwa Fraser anstrebt –, gilt ihr erkenntnistheoretisch als verdächtig. Daraus resultiert eine politische Unschärfe. Wenn Mouffe dem Linkspopulismus anrechnet, die Bedeutung zu betonen, «die eine Mobilisierung gemeinsamer Affekte für die Konstruktion eines ‹Wir› hat», bleibt zugleich vage, was denn jenseits der Leidenschaften die materielle Basis dieses «Wir» sein soll.

Ihr Programm ist daher nicht von ungefähr anschlussfähig an sozialkonservative Strömungen der Linken. Dort redet man «dem Volk» auch mal nach dem Maul, etwa wenn der Chef der Kommunistischen Partei Frankreichs das Menschenrecht auf Fleischverzehr verteidigt oder eine deutsche Kollegin von ihm gegen «Lifestyle-Linke» polemisiert. Ohne ein Bemühen um die Vermessung dessen, was wirklich ist, gelangt man so unversehens dorthin, wo alles egal ist, solange genug Leute zuprosten.

Nancy Fraser: «Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt». Suhrkamp Verlag. Berlin 2023. 282 Seiten. 30 Franken.

Chantal Mouffe: «Eine Grüne demokratische Revolution». Suhrkamp Verlag. Berlin 2023. 99 Seiten. 26 Franken.