Ein Traum der Welt: Kleine Ausfahrt
Annette Hug entdeckt die Stadt mit einer Geimpften
Mehr als ein Jahr lang hat sie das Pflegezentrum nicht verlassen. Auf ihrer Station war einmal kurz Panik ausgebrochen, so wirkte das zumindest. Am abendlichen Telefon sagte sie in jener Dezemberwoche: «Ich werd verrückt, wie das hier läuft … richtig Utopia …» Utopisch ist in ihrem Wortschatz etwas, das wir uns nicht hätten denken können. «Corona ist hier breit gefächert …»
Aus solchen Sätzen und kurzen, wechselnden Informationen einzelner Pflegekräfte versuchte ich, mir ein Bild zu machen. Bis dann – für mich und meine Verwandte – die Entwarnung kam. Im Lauf des Januars wurde das ganze Heim coronafrei, und jetzt sind alle, die das wollten, geimpft. Was noch nicht heisst, dass sie das Gebäude verlassen dürfen. Auch Besuche sind erst eingeschränkt möglich. Aber seit letztem Sommer steht eine Zahnbehandlung an, die als dringender Fall gilt. Schwarze Vorderzähne.
«Ich dachte einfach: nicht so viel lächeln», sagt meine Verwandte jetzt, da das Unglaubliche möglich geworden ist. Eine blutjunge Zahnärztin und eine noch jüngere Assistentin verwandelten Ruinen innerhalb von zwei Stunden in schöne, fast schon blendend weisse Zähne. Man meinte ihnen die Freude anzusehen, in einer Spezialklinik für Alters- und Behindertenzahnpflege zu wirken. Hier können sie richtig eingreifen. Zu viert bewunderten wir die Fotos von vorher und nachher. «Zähne und Lippenstift, das wirkt jetzt doppelt», sagte meine Verwandte lächelnd und entschuldigte sich bei der Zahnärztin: «Wissen Sie, wenn man allein lebt, kräht ja kein Hahn danach. Muss man halt selber krähen …» Was nicht so einfach ist, wenn man an Demenz erkrankt und verbeiständet ist. Dann fragt eine amtliche Stelle: Lohnt sich das noch? Und Pflegekräfte fragen, zu Recht: Ist das nicht Quälerei?
Wenn ich überzeugt bin, dass sich meine Verwandte über schöne Zähne enorm freuen wird, dann wappne ich mich mit mehr als dem Lippenstift-Argument. Ich lese nach, dass in der Demenz Schmerzen oft nicht mehr genau zugeordnet werden können. Sie verschlechtern dann den allgemeinen Gemütszustand. Das macht auch die Pflege schwieriger – und teurer. «Grossartig, dass uns das Amt die Bewilligung gegeben hat!», begrüsste uns die Zahnärztin in der Klinik. Meine Verwandte hatte vor allem zugesagt, weil sie einen Ausflug machen wollte. Irgendeinen. Auf der Fahrt durch Zürich sah sie auch Strassen ihrer weit entfernten Geburtsstadt, wo sie als Kind Zeitungen ausgetragen hatte. Ihr fielen Leute auf, die richtig schön angezogen waren: taillierte Wintermäntel, Anzüge und Handwerksmonturen. «Das habe ich vermisst», sagte sie. «Verrückt, was die Zeit mit uns macht.»
Auf das Tixi-Taxi, das uns zum Heim zurückbringen würde, wollte sie auf dem Gehsteig warten, um noch etwas Stadtluft zu schnuppern. Bald winkte sie eine Passantin zu sich heran: «Tschuldigen Sie, ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie wirklich klasse angezogen sind. Diese Farbkombination!» Sichtlich gerührt und überschwänglich bedankte sich die junge Frau. Dann ging sie weiter zum Kebabstand, wo Leute ihr Mittagessen kauften, die ausser Haus arbeiten müssen, aber nicht im Sitzen gemeinsam essen dürfen.
Leicht bezaubert schauten wir der gut Gekleideten nach: ihrer dunkelvioletten Vliesjacke, den gleichfarbigen Turnschuhen und den grauen Leggins.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und fragt sich, wann die Medizintechnik zur Wirtschaft gehört, wann sie Teil der Gesundheitsausgaben wird, wie sich Kleidung und Kostüm unterscheiden und wo die Grenzen zwischen prosaischen und poetischen Bedürfnissen verlaufen.