Wichtig zu wissen: Meinung zur Meinung
Ruedi Widmer möchte sich befreien
Ich habe eine Meinung zu Pierre Maudet, zu Jens Spahn, zur Impfung, und schon wirds mir ganz blümerant zumute, denn ich merke auch, wie mich diese Meinungen behindern. Meine eigenen Meinungsäusserungen sind mir oft selber unangenehm, wie aus dem Körper Ausgeschiedenes.
Das ist natürlich schlimm für einen Cartoonisten, der auf Facebook manchmal gegen Rechtspopulismus und Elektrotrottis postet. Ich schaffe es je länger, je weniger, mich noch aufzuregen über die Aufregungsthemen, über Liestals Vollcovidioten, über die politisch-mediale Dominanz der Saufspünten gegenüber der Kulturwelt oder über den Cartoon von Burkhard Fritsche, mit dem der «Nebelspalter» die linksintellektuelle Crème de la Crème zu provozieren versuchte, was ihm auch tatsächlich gelang (Respekt). Der «Nebelspalter» ist mir aber generell unangenehm, und zwar nicht mal, weil er so vorhersehbar ist oder rechts, sondern weil die neuen Besitzer den alten «Nebelspalter» ohne Not kaputtgemacht haben, mit lieb- und kulturlosem Datencontent statt Cartoons von CartoonistInnen (sagt man Leuten in Chatrooms eigentlich ChatroomistInnen?).
Wenn ich mich besinne, dann habe ich glücklicherweise zu vielem keine Meinung, zu Kartoffeln, zu Strassenputzmaschinen, zu ETH-Stipendien, zu Kellerasseln, zu Sellerie, zu Nebenwegen, zu Wolken. Ich begegne ihnen mit einer Mischung aus Einsicht in ihre Notwendigkeit und purer Freude an den Ausdrucksformen des Lebens. Ich habe nicht mal zur nervenden Maske eine Meinung, sie scheint mir wie ein Geländer einfach notwendig, weil sie Menschen schützt und weil einige Leute, die etwas davon verstehen, das faktisch festmachen können. Die Zunahme von Meinungen geht ja einher mit der Abnahme von Vertrauen in Autoritäten, vor allem solche eines Fachs oder des Intellekts. Handwerker werden beargwöhnt, man geht lieber in den Baumarkt, das kann man selber auch, günstiger und besser. Ebenso was Journalistinnen, Verkäufer, Lehrerinnen, Bundesräte, Wirtinnen, Wissenschaftler, Satirikerinnen, Fussballer, Grafikerinnen, Elektriker, Ärztinnen, «Gstudierte», Bäuerinnen und Bauern, DJanen tun. Meinung ist Ausdruck der Selbstdemokratie, der Selbstermächtigung über alles und jedes, genährt von der obszönen neoliberalen Sofortverfügbarkeit und -politik.
Das höchste Gut, das die Menschheit anstreben sollte, ist (neben Frieden) Meinungslosigkeit. Aber diese Meinungslosigkeit sollte nicht durch Naivität erfolgen, sondern im Gegenteil durch Reflexion, am besten eine Offlinereflexion, draussen an der frischen Luft, alleine, oder mit FreundInnen, aber keinesfalls auf einer Restaurantterrasse, sondern irgendwo in der Natur; sie sollte aber nicht esoterisch sein, kein Zurück zur Natur, sondern in einer nicht verherrlichten Natur stattfinden, einer, die einfach da ist, wie die Strassenputzmaschine da ist; sie darf aber – Meinung Nr. 9 – nicht auf Zynismus beruhen und schon gar nicht auf Querdenkerei. Meinungslosigkeit zu erreichen, ist sehr schwierig, man müsste vielleicht Kurse dafür anbieten, vielleicht doch irgendwas mit einer App machen, ein Hochschulstudium einrichten … da werden wieder Meinungen auseinandergehen.
Gerade deshalb mag ich Sachen, zu denen ich keine Meinung haben muss, in deren Natur die Meinungslosigkeit bereits enthalten ist. An ihnen kann ich Toleranz lernen, Frieden und Einkehr zu mir selbst, Bewusstsein für die Mitmenschen, die Endlichkeit des Lebens und die eigene Bedeutungslosigkeit.
Mit Meinungslosigkeit kann man sich in der Gesellschaft keine Lorbeeren holen, denn Meinungslosigkeit ist nicht männlich. Sie ist nicht heldenhaft, sondern liegt ruhig wie Seewasser. Man kann sich damit nicht profilieren, nicht in Gruppen damit angeben, man kann sie nur still für sich selber geniessen und daran genesen.
Ruedi Widmer ist einer Meinung.