Universitätsbibliothek Zürich: Wird das Buch zum Luxusgut?

Nr. 13 –

Die Universität Zürich zentralisiert und digitalisiert ihre Bibliotheken. Damit verändert sich nicht nur der Beruf der Bibliothekarin radikal. Grösser wird auch der Aufwand, bis man ein Buch in Händen hält.

Lautlos gleitet das lindengrüne Tor zur Seite. Endlich, nach über zwei Stunden Anreise aus Zürich, geraten sie in Reichweite. Rund 2,8 Millionen Bücher und Zeitschriften sind in der Speicherbibliothek am Rand des Industriequartiers im 2300-Seelen-Dorf Büron LU versammelt: ausgelagert von Zentral- und Hochschulbibliotheken aus Luzern, Basel, St. Gallen, Solothurn und Zürich. Fein säuberlich und ohne jede ersichtliche Ordnung in normierten Boxen versorgt, die in fast fünfzehn Meter hohen und siebzig Meter langen Regalen gestapelt sind. Die Hightechanlage bietet ihnen ein optimales Klima, der Sauerstoff ist so weit reduziert, dass kein Brand entstehen kann – und auch kein Mensch sich in der Halle aufhalten soll, wie Mike Märki betont, Geschäftsführer der Kooperative Speicherbibliothek Schweiz. «Es melden sich regelmässig weitere Interessenten, die hier Bücher und anderes Schriftgut einlagern wollen», sagt er. Der Speicher ist modular erweiterbar, bis zu vierzehn Millionen Exemplaren bietet er Platz.

Die Bibliothek der Zukunft, sie will nicht länger simple Bücherei sein, sondern Ort der Informationsvermittlung. Als vor drei Jahren publik wurde, dass die Uni Zürich ihre Institutsbibliotheken auflösen und deren Bücherbestand massiv reduzieren will, um organisatorisch alles zu einer einzigen Universitätsbibliothek (UBZH) zusammenzuführen, war der Aufschrei gross. Namentlich in den Geisteswissenschaften pochte man auf die zentrale Rolle des Buchs in Forschung und Lehre und vor allem auf seine physische Präsenz und Verfügbarkeit. Mit dem designierten UBZH-Direktor Rudolf Mumenthaler haben sich die Wogen etwas geglättet. Er habe für alle Anliegen ein offenes Ohr und kommuniziere transparent, berichten Bibliothekarinnen, Studenten, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Professoren.

Doch auch Mumenthaler betont, dass die zahlreichen digitalen Entwicklungen im Bibliotheksbereich und beim wissenschaftlichen Publizieren zu einem radikalen Umbau zwingen würden, der weder vor den Geisteswissenschaften noch vor dem Bibliothekspersonal haltmachen werde. Neue Medien wie E-Books werden anders gekauft und lizenziert als Bücher und in der Regel gar nicht mehr katalogisiert, sondern nur noch via Metadaten ins System geholt, damit man sie dort abrufen kann. «Aber wer hat Zugriff darauf, und wie klärt man das ab? Solche rechtlichen Fragen werden extrem wichtig und tauchen überall auf», sagt Mumenthaler. Zum Beispiel, wenn Forschende auf unieigenen oder von Dritten betriebenen Plattformen open access publizieren wollen.

Lernplätze statt Bücherregale

Im Januar 2022 nimmt die neue UBZH ihren Betrieb auf. Sie verwaltet künftig die Bibliotheksbudgets der einzelnen Institute, die gesamte Medienbeschaffung wird zentralisiert und mit der Zentralbibliothek Zürich (ZB) koordiniert. «In einzelnen Bibliotheken wird weiterhin zu festgelegten Zeiten jemand an der Theke sitzen und Auskunft geben», so der designierte Direktor, «an anderen Standorten wird auf Selbstausleihe umgestellt.» Organisatorisch werden sämtliche Bibliotheken in sechs Bereichsbibliotheken zusammengeführt. Zu grösseren räumlichen Veränderungen komme es vorerst aber noch nicht.

Erst 2027 sollen die philologischen Institute und die Wirtschaftswissenschaften im Forum gegenüber dem Hauptgebäude zusammenziehen. In der gemeinsamen Bereichsbibliothek wird es weniger Bücher, dafür mehr Arbeits- und Lernplätze für die Studierenden geben. «Man kann nicht mehr alle Bücher hinter sich im Regal stehen haben», so Mumenthaler an die Adresse der betroffenen Sprach- und LiteraturwissenschaftlerInnen. «Man muss sich entscheiden, welche wirklich vor Ort bleiben müssen und welche ein bisschen weiter weg gelagert werden können, von wo man sie dann im System bestellen kann.»

Aktuell bewahrt die Speicherbibliothek in Büron bereits mehr als eine Million Bücher der ZB und knapp 117 000 Werke aus den Zürcher Institutsbibliotheken auf. Das Historische Seminar etwa hat 12 600 Monografien und 3000 Zeitschriftenbände hier deponiert. Trifft eine Bestellanfrage im Computersystem ein, rollt der auf Schienen fahrende Roboterkran in der entsprechenden Gestellreihe bis zur avisierten Box, fährt die Plattform hoch, schiebt sich den grauen Behälter drauf, gleitet weiter bis zum Rollenförderband und lädt die Box ab. Über einen Lift gelangt sie in die Bestellabteilung, einen Raum mit viel Förderband und zwei Bildschirmen. Erst hier kommt zum ersten Mal ein Mensch ins Spiel: Mike Märki zeigt auf den Bildschirm, der anzeigt, dass das gesuchte Buch an vierter Stelle im ersten Quadranten der Box steht. Er greift hinein – «Glück gehabt!», der richtige Titel –, scannt den Barcode des Buchs und legt es in die pinke Box für den Kurier. Der ganze Prozess dauert im Schnitt kaum sechs Minuten.

Bis ein Buch in Zürich abgeholt werden kann, vergehen aber bis zu 48 Stunden. Gut ein Drittel der eingelagerten Werke kann zudem nur vor Ort in Büron eingesehen werden, weil sie zum Kollektivbestand gehören, also das letzte Exemplar der beteiligten Bibliotheken sind. «Kaum jemand will extra nach Büron fahren, um zehn Jahrgänge einer Zeitschrift durchzusehen», sagt Ladina Tschander, die stellvertretende UBZH-Projektleiterin. Man suche jetzt gemeinsam mit der Speicherbibliothek nach komfortableren Lösungen für Forschende.

Auch Mumenthaler betont, dass die fortschreitende Auslagerung von Bibliotheksbeständen von Uniangehörigen nur akzeptiert werden dürfte, wenn auch die Qualität der Dienstleistungen stimme. Dazu zählen kostenlose Scans, Kopien und Kurierdienste nicht nur aus Büron, sondern auch aus Institutsbibliotheken und der ZB sowie verlängerte Öffnungszeiten der Bibliotheken. All dies gilt jedoch nur für Uniangehörige. Für alle übrigen NutzerInnen wird nicht nur der Zugang zu Büchern erschwert, er wird auch teuer: Jede Ausleihe eines Buchs, das via Kurier in die ZB geliefert werden muss, kostet sechs Franken.

Verunsichert in die Zukunft

Für die BibliothekarInnen scheint mit dem Start der UBZH in neun Monaten kaum ein Stein auf dem andern zu bleiben. Dann wird es nur noch sechs LeiterInnen der Bereichsbibliotheken geben, und alle MitarbeiterInnen müssen sich für eines der drei künftigen Arbeitsfelder entscheiden, in denen sie in grösseren Teams zusammenarbeiten werden: Medienbearbeitung, Nutzungsdienste, Liaison Librarians. Attraktiv ist vor allem Letzteres: Ein Liaison Librarian ist verantwortlich für Bücherbestellungen und arbeitet als zentrale Schaltstelle eng mit den Forschenden am Institut sowie mit FachreferentInnen der ZB zusammen, verfügt also über einen entsprechenden akademischen Fachhintergrund.

Auch wenn ihnen eine Anstellung im bisherigen Umfang garantiert wird: Die BibliothekarInnen befinden sich aktuell in einer «unangenehmen Warte- und Zwischenphase», wie Silvia Meyer-Denzler, Koleiterin der Bibliothek am Deutschen Seminar, betont. Viele seien verunsichert und befürchteten einen Verlust an Selbstständigkeit: «Wir werden die Breite der Tätigkeiten verlieren.» Das grösste Problem aber sei die parallel laufende Umstellung auf das neue Bibliotheksprogramm, das zu Swisscovery gehört (vgl. «Wer sucht, der findet nichts mehr» ). «Ich habe den Eindruck, dass alle sehr ausgelastet sind und mit ganz vielen technischen Problemen kämpfen.» Das führe zum unguten Gefühl, im UBZH-Projekt etwas zu verpassen und im richtigen Moment nicht mitsprechen zu können.

In der Speicherbibliothek, wo die Zahl der Bücher weiter anwächst, hat sich das Jobprofil am radikalsten gewandelt: Ist ein Buch gereinigt und elektronisch erfasst, nimmt die Bibliothekarin es nur noch zur Hand, um es von einer Box in die andere zu befördern, zu scannen, zu kopieren oder zu verpacken. Nur hin und wieder muss sie sich das Klettergewand überziehen, um im Lager am Roboterkran hochzuklettern und eine verklemmte Box zu befreien.