Vertrieben aus Myanmar: Die Tragik der Rohingya
Nach dem Militärputsch sind alle Augen auf Myanmar gerichtet. Derweil geht das Leiden der zuvor aus dem Land vertriebenen Rohingya weiter: In Bangladesch brennen die Lager, in Indien droht ihnen die Ausschaffung, und in Malaysia werden sie seit Beginn der Pandemie noch heftiger diskriminiert.
Die touristische Attraktion von Cox’s Bazar am Golf von Bengalen ist ein unheimlich langer, goldgelber Stadtstrand. Nur wenige Kilometer entfernt von dieser Strandidylle mit ihren bunten Sonnenschirmen beginnen sich ärmliche Bambushütten aneinanderzudrängen: Hier leben fast eine Million geflüchtete Rohingya aus Myanmar. Es ist eines der grössten Flüchtlingslager der Welt.
Bangladesch ist ein armes Land und verdient höchste Anerkennung für die Aufnahme der Rohingya und deren Versorgung – die nur mithilfe der Vereinten Nationen und internationaler Hilfsorganisationen überhaupt möglich ist. Ganz selbstverständlich sollen die Flüchtlinge wie alle anderen EinwohnerInnen des Landes in den kommenden Monaten gegen Corona geimpft werden. Hingegen lehnt es Bangladesch ab, den Geflüchteten richtige Häuser, richtige Schulen, richtige Spitäler bauen zu lassen. Es soll jeder Eindruck vermieden werden, dass die Lager zur Dauerlösung würden.
Seit Anfang des Jahres kam es in den Lagern zu gleich vier Grossbränden, die Tausende Hütten in Schutt und Asche legten. Saad Hammadi, Südasienexperte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, kritisierte auf Twitter, dass die Resultate der Untersuchungen zu den Bränden nicht bekannt gegeben worden seien und dass Stacheldrahtzäune innerhalb der Lager fliehende Menschen und Löschaktionen behindert hätten.
Das ewige Warten
Im August 2017 begann Myanmars Armee mit der gewaltsamen Vertreibung von mehr als 650 000 Rohingya aus dem Gliedstaat Rakhine nach Bangladesch, wo bereits Hunderttausende Rohingya lebten, die vor früheren Pogromen geflüchtet waren. Unterstützt wurde die Armee von der Arakan Army (AA), der Miliz der buddhistischen Arakanesen, die in Rakhine die religiös-ethnische Mehrheitsbevölkerung stellen, gleichzeitig aber für ihre Unabhängigkeit von Myanmar kämpfen.
Die Ironie der Geschichte: Kaum waren die verhassten muslimischen Rohingya vertrieben, startete die gut ausgerüstete AA eine Offensive gegen die Armee. Das Militär seinerseits erklärte die AA zu «Terroristen». Nach dem Putsch vom 1. Februar dieses Jahres wurde die AA überraschend wieder von der Liste der Terrororganisationen gestrichen. «Die Armee braucht die in Rakhine stationierten und für ihre besondere Brutalität bekannten Einheiten anderswo im Land für die Niederschlagung des Widerstands gegen die Militärjunta», sagt ein westlicher Diplomat in Myanmar gegenüber der WOZ.
Im Oktober 2017 erzählte der damals sechzehnjährige Rohingya Zobier von seiner Flucht: Er war einen Monat zuvor mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder vor der Gewalt in Rakhine geflohen. Nach drei Tagen Fussmarsch hätten sie endlich den Fluss Naf erreicht, der die Grenze zwischen Myanmar und Bangladesch bildet. Sie würden sofort nach Rakhine zurückkehren, aber nur, wenn Myanmar den Rohingya Bürgerrechte, Zugang zu Bildung und Sicherheit garantiere – «und sie meine Familie für unser niedergebranntes Haus entschädigen», so Zobier. Das war vor vier Jahren. Auf eine Rückkehr in die Heimat dürften Zobier und die anderen Flüchtlinge indes noch lange warten müssen. Allerlei Verhandlungen zwischen Bangladesch und der inzwischen vom Militär gestürzten Regierung von Aung San Suu Kyi über die Rückführung der Flüchtlinge sind im Sande verlaufen, weil Myanmar letztlich nicht bereit war, die geforderten Garantien abzugeben.
Systematisch dämonisiert
Um die Rechte der Rohingya war es unter Aung San Suu Kyi schlechter bestellt denn je. Das mehrheitlich buddhistische Myanmar benutze sein Rechtssystem «als Waffe» zur Diskriminierung und Verfolgung der Rohingya, die schon seit Generationen in Rakhine lebten, sagt Kyaw Win, Direktor des Burma Human Rights Network. «Die Rohingya wurden von der Propaganda des Militärs und einigen Medien als ‹illegale Bengalen› dämonisiert», sagt Kyaw Win und fügt hinzu: «So verweigern sie den Rohingya das Recht auf ihre Identität und provozieren Angst, indem sie sie als ruchlose Gruppe hinstellen, die dem Land schaden will.»
Die ethnischen Minderheiten Myanmars waren enttäuscht von der Regierung von Aung San Suu Kyi. «Die Rohingya und die anderen ethnischen Gruppen hatten erwartet, dass sie Gleichberechtigung bringt», sagte die Menschenrechtsaktivistin Wai Wai Nu Anfang August 2020 in einer virtuellen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses des US-Repräsentantenhauses. «Stattdessen hat sie sich von ihnen abgewandt und sich auf die Seite der Armee gestellt», so die ehemalige politische Gefangene. Im Januar 2020 war Aung San Suu Kyi persönlich nach Den Haag gereist, um die Vertreibung der Rohingya durch das Militär, das sie ein Jahr später stürzen sollte, vor dem Internationalen Gerichtshof zu verteidigen. Das muslimische Gambia hatte beim IGH Klage gegen Myanmar wegen Völkermord eingereicht.
Erinnerung an das erste Pogrom
Das erste Pogrom von Myanmars Armee an den Rohingya fand bereits 1978 statt. Der Schweizer Martin Haug war damals als Praktikant des Roten Kreuzes in Bangladesch dabei, als in Cox’s Bazar das erste Lager für die damals 200 000 Flüchtlinge entstand. Im Februar 2020 besuchte Haug nach über vierzig Jahren wieder die Lager. «Es hat sich seither grundsätzlich nichts verändert», sagt der 65-Jährige: «Es herrscht nämlich die gleiche Perspektivlosigkeit.» Was sich aber verändert habe, so Haug, sei die heute wesentlich bessere Infrastruktur zur Versorgung der Flüchtlinge. «Es gibt ausreichend Waschmöglichkeiten und Toiletten, die Wege in den Lagern sind nachts beleuchtet.» 1978 seien Kinder zu Tausenden gestorben. «Heute ist die medizinische Versorgung der Flüchtlinge gut», sagt Haug.
Auch ausserhalb Bangladeschs leben Zehntausende Rohingya. In Indien ist allerdings die hindu-nationalistische und extrem islamfeindliche Regierung von Premierminister Narendra Modi fest entschlossen, die Flüchtlinge nach Myanmar abzuschieben. Mehr als 100 000 Rohingya sind im mehrheitlich muslimischen Malaysia untergekommen, wo sie von ihren GlaubensgenossInnen bestenfalls geduldet, nicht aber als legitime Asylsuchende anerkannt und seit einem Jahr als angebliche Schuldige für die Verbreitung des Coronavirus diffamiert werden. Zafar Ahmad Abdul Ghani, Vorsitzender einer Rohingya-Organisation in Malaysia, konnte seit einem Jahr seine Wohnung in Kuala Lumpur nicht mehr verlassen, weil er und seine Familie Hass und Morddrohungen ausgesetzt seien. Weder die Polizei noch die Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen würden ihm helfen, klagt der seit 1997 in Malaysia lebende Ghani am Telefon: «Meine Familie und ich leben in Angst. Als Überlebender eines Genozids frage ich mich, warum Menschen uns das antun.»
Und das ist das, was Haug die «Tragik der Rohingya» nennt: «Sie sind nirgendwo willkommen.»