Zürcher Gastroszene: Eine Stadtoase weniger?
Im Zürcher Restaurant Reithalle kommen seit über dreissig Jahren Drogenabhängige und Showgrössen zusammen. Nun wurde das Lokal an neue Pächter vergeben. Zum Entsetzen der Belegschaft.
An einem schönen Nachmittag Ende März, im Garten hinter dem Restaurant Reithalle im Zürcher Kreis 1. MitarbeiterInnen des Restaurants sitzen in der Sonne, auch zwei langjährige Stammgäste sind da. Das Restaurant hat wegen Corona geschlossen. Aber die Stimmung ist auch sonst schlecht. Seit zwei Wochen weiss die Belegschaft, dass es ihre «Reithalle» so nicht mehr geben wird. Es werden Geschichten ausgetauscht – über Hochzeiten und Geburtstage, aber auch über schwierige Zeiten oder nervige Gäste. «Bei uns hatten alle Platz, auch die Drogenabhängigen haben noch ein Coci gekriegt», erzählt die langjährige Mitarbeiterin Erika Rothen.
Direkt am Schanzengraben schufen Pächter Rolf Salzmann und sein Team in einem alten Kavalleriestall mit über 100 Innen- und gegen 300 Aussenplätzen seit 1989 einen Ort, an dem sich viele wohlfühlten: internationale Showgrössen, bekannte PolitikerInnen, alternatives Stadtpublikum. Als Salzmann und sein Partner Uriel Bloch vor über zwei Jahren ihren Rückzug auf Ende 2021 ankündeten, war für die Belegschaft klar: Wir wollen diese unkonventionelle Oase weiterführen. Corona beschleunigte diesen Prozess nun. Salzmann und Bloch verlassen die «Reithalle» bereits auf Ende April, weshalb das Lokal im November öffentlich ausgeschrieben wurde.
Für das Team der «Reithalle» war klar, dass sie ihre Beiz nicht aufgeben. Unter dem Motto «Vier für alle» bewarben sich vier langjährige MitarbeiterInnen, darunter Fabienne Müller und Erika Rothen, beide seit über zwanzig Jahren im Betrieb. Das Bewerbungsdossier ist imposant: 81 Seiten, genaue Budgetanalysen und eine ausgefeilte Speisekarte. «Die ‹Reithalle› hat sich über die Jahre stetig entwickelt, ohne dabei exklusiv zu werden. Mit unserem Konzept wären wir dieser Tradition treu geblieben», sagt Fabienne Müller.
Am 12. März kommt die Hiobsbotschaft: Es hat knapp nicht gereicht. Der Zuschlag ging an andere Bewerber, an Nicolas Baumann sowie Gian und Nico Gross. Mit der «Huusbeiz», der «Jdaburg» und dem «Rosengarten» sind sie in der Stadt Zürich bereits an drei anderen Orten tätig. Insbesondere ihr kulturnahes Konzept habe den Ausschlag gegeben, begründet der Verein Theaterhaus Gessnerallee (VTG) den Entscheid.
Ausschreibung zur Unzeit
Die «Reithalle» gehört, wie verschiedene Theaterräumlichkeiten und der Club Stall 6, zum Gebäudekomplex an der Gessnerallee – alles verwaltet vom VTG. Das Restaurant ist ein eigener Betrieb, die Pachtvergabe der städtischen Räumlichkeiten liegt aber beim Vereinsvorstand. Der Kulturbetrieb profitiert dabei vom gastronomischen Treiben: Das Restaurant zahlt dem Verein eine umsatzabhängige Miete von acht Prozent, jedoch mindestens 20 000 Franken monatlich.
Auf Nachfrage erklärt Mirjam Schlup vom VTG, dass sich der Vorstand freiwillig für die Ausschreibung entschieden habe: «Für uns war früh klar, dass so ein grosses Lokal an einem so zentralen Standort nicht unter der Hand vergeben werden kann. Das hätte bestimmt Kritik eingebracht.»
Kritik gibt es aber auch am Vorgehen des Vereins, die Ausschreibung ohne Not mitten in der Pandemie vorzunehmen. Es drängt sich die Frage auf, ob keine Möglichkeit bestand, das Lokal dem bestehenden Team bis auf Weiteres zu überlassen und die öffentliche Ausschreibung zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen. Für die derzeitigen MitarbeiterInnen, die sich nun bei den neuen Pächtern bewerben können und sonst in einer von der Krise schwer getroffenen Branche eine Neuanstellung finden müssen, hätte das Arbeitsplatzsicherheit geschaffen.
Diese Kritik kann Schlup nicht nachvollziehen: «Der Belegschaft war bereits seit zwei Jahren bekannt, dass wir das Lokal neu ausschreiben wollen.» Der Verein sieht sich nicht in der Verantwortung für die bald arbeitslosen Angestellten: «Wir sind als Verein nicht Arbeitgeber der Restaurantangestellten. Wir sind nur verantwortlich für die Vergabe des Restaurants. Dabei war es uns wichtig, dass bestehende Lehrverhältnisse übernommen werden und Bereitschaft bestand, mit bisherigen Mitarbeitenden Gespräche für Neuanstellungen zu führen», sagt Schlup.
Die Hoffnung bleibt
Im aktuellen Team hingegen ist das Unverständnis gross: «Warum erhalten im Falle einer knappen Entscheidung jene Bewerber den Zuschlag, die bereits drei Restaurants besitzen, und nicht die bestehende, langjährige, durchmischte und qualifizierte Belegschaft?», fragt Rothen im Gespräch im Sommergarten. «Die Gessnerallee und die Stadt geben sich sozial und reden von Diversität, aber sozialer und diverser als bei uns wird es kaum: Bis zu siebzehn Nationen haben hier zusammengearbeitet – viele Mitarbeiter waren weit über zehn Jahre hier.» Dass drei Männer mit bestehenden Projekten, aber ohne Belegschaft im Rücken gegenüber ihnen als durchmischtem Bewerbungsquartett mitsamt Team den Vorzug erhalten, ist für alle Anwesenden nicht nachvollziehbar.
Doch trotz der grossen Enttäuschung ist die Hoffnung an diesem Nachmittag nicht verschwunden. Wenn nicht in der «Reithalle», dann halt woanders, hofft Fabienne Müller: «Wir suchen gemeinsam weiter nach einem neuen Ort – unsere Ideen von gemeinsamer und nachhaltiger Gastronomie geben wir nicht auf.»