Architektur: Jeder Abriss ist ein Irrtum

Nr. 15 –

Im März sind Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal mit dem begehrten Pritzker-Architekturpreis ausgezeichnet worden. Statt mit teuren Materialien zu protzen, lassen sich die beiden von Gewächshäusern inspirieren. Sie bauen hell, verspielt, luftig – und bezahlbar.

  • Viel Licht und Wärme dank Konstruktionen aus der Landwirtschaft: Das Zentrum für zeitgenössische Kunst (Frac) im nordfranzösischen Dunkerque (2013). Foto: Philippe Ruault
  • Das allererste Werk des Paars: Das Einfamilienhaus Maison Latapie in Floirac bei Bordeaux (1993). Foto: Philippe Ruault
  • Foto: Philippe Ruault
  • Poliert und ästhetisiert ist hier gar nichts: Das Kunstzentrum Palais de Tokyo in Paris (2012). Foto: Philippe Ruault
  • Foto: Philippe Ruault
  • Grösser und heller dank Wintergärten und Balkonen: Sozialwohnungsturm Bois-le-Prêtre in Paris (2011). Foto: Philippe Ruault
  • Foto: Philippe Ruault

Im Nachhinein ist die Versuchung gross, von Erfolg gekrönte Lebensläufe geradezuzeichnen. Aber führte wirklich eine Linie von der Gründung eines Architekturbüros in der französischen Provinz 1987 bis zur Verleihung des Pritzker Architecture Prize, der weltweit begehrtesten Auszeichnung in der Sparte «Baukunst», an Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal? Im Leben des Paars, erst recht im Werdegang seiner Agentur, mag es Höhen und Tiefen gegeben haben, Kurven und Kehrtwenden. Aber das gemeinsame Werk – ein Wort, das die beiden «zu starr, zu monumental» finden – ist in seiner Entwicklung tatsächlich von staunenswerter Geradlinigkeit.

Im Kern findet sich schon alles im ersten Bau, der Maison Latapie in Floirac bei Bordeaux (1993). Trotz des bescheidenen Budgets von 430 000 Francs (nach heutigem Wert knapp 105 000 Franken) konnten Lacaton & Vassal den AuftraggeberInnen – einem Paar mit zwei Kindern – all jene Wünsche erfüllen, die ihnen ein Einfamilienhaus aus dem Katalog versagt hätte. Und zuvorderst jenen nach Geräumigkeit: Mit sage und schreibe 185 Quadratmetern weist die Maison Latapie ein schwer schlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis auf, liegt sie doch um gut 130 Prozent über der Wohnfläche, die die AuftraggeberInnen sich erhofft hatten! Um derart kostengünstig zu bauen, griffen Lacaton & Vassal auf Techniken aus anderen Sektoren zurück: dem Grosshandelsbetrieb und dem Gewächshausbau. Ersterem entlehnten sie eine metallene Tragstruktur, wie sie in Hypermärkten zu finden ist. Auf der strassenseitigen Hälfte des über einem quadratischen Grundriss errichteten Hauses ist diese Struktur aussen mit Platten aus Faserzement verkleidet und innen mit Holz isoliert. Hier finden sich ein grosses Wohnzimmer mit offener Küche und im Obergeschoss zwei Zimmer mitsamt Bad. Die gartenseitige Haushälfte ist vollständig mit Platten aus leicht opakem Polykarbonat ausgekleidet. Diesen 63 Quadratmeter grossen «Wintergarten» nutzen die BewohnerInnen als ein meist ungeheiztes «Loft» – faltbare Fenstertüren öffnen diese zweite Haushälfte fast völlig zum Wohnzimmer hin.

Frei- und Zwischenräume

Die in diesem Erstlingsbau angelegten Ansätze haben Lacaton & Vassal in späteren Verwirklichungen weiterverfolgt – namentlich einem Einzelhaus in Coutras (2000) sowie Mehrfamilienhäusern in Mulhouse (der sogenannten Cité manifeste, 2005) und Trignac (2010). Drei Hauptaspekte seien hier herausgegriffen. Erstens lassen Lacaton & Vassal prinzipiell so viel Licht wie möglich in ihre Wohnbauten hinein. Fenster sind bei ihnen meist raumhoch (dadurch sparen sie auch die Kosten für Mauerwerk und Zargen), oft findet man halb oder ganz durchsichtige Dächer oder Dachteile. Die Helligkeit regulieren sie mittels Segeln und Vorhängen – das sei unabdingbar, wenn man grösstmögliche Transparenz erstrebe, erklärt Jean-Philippe Vassal im Telefongespräch. «So stehen den Bewohnern alle Optionen offen zwischen ganz hell und ganz dunkel.»

Liefern Kosteneffizienz, Rationalität und Subversion: Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal. Foto: Philippe Ruault

Zweitens sucht das Paar, Offenheit, Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit zu erzeugen. Das beginnt mit einfachen Forderungen: dass kein Zimmer sich ohne alternative Zugangsmöglichkeit am Ende eines Korridors befinden dürfe. Oder dass ein Balkon über mindestens zwei Fenstertüren zugänglich sein solle. «Die Freiheit, zu wählen, wie man sich durch seine Wohnung bewegt, ist von zentraler Bedeutung», bekräftigt Vassal. Doch das Hauptbestreben der jüngsten Pritzker-PreisträgerInnen ist es, zusätzliche Nutzfläche ohne funktionale Vorbestimmung zu liefern. Und zwar nicht hier und da einen Quadratmeter – sondern zehn, fünfzig, ja hundert Prozent mehr als gefordert! In der Maison Latapie, in den Mehrfamilienhäusern in Mulhouse und Trignac ist ihnen das dank der Verwendung von Wintergärten beziehungsweise von zweckentfremdeten landwirtschaftlichen Gewächshäusern gelungen. Diese können benutzt werden, wie es den BewohnerInnen beliebt, derweil Schlafzimmer, Küche und Bad in einem besser isolierten Gebäudeteil untergebracht sind. Die Architekturschule in Nantes (2009) geht mit einem anderen Konstruktionsprinzip noch weiter. Sie ist wie ein Parkhaus gebaut: Eine breite Rampe verbindet drei Plateaus aus vorgefertigten Betonplatten mit einer Tragkraft von einer Tonne pro Quadratmeter. Die verglasten Programmelemente (Klassenzimmer, Atelierräume) sind in diese zwischen sechs und neun Meter hohen Geschosse hineingesetzt wie Schachteln in Regale; um sie herum vermitteln weiträumige Pufferzonen, durch verschiebbare Polykarbonatpaneele abgeschirmt, zwischen innen und aussen. Statt der geforderten 8500 Quadratmeter Nutzfläche bietet der Bau so deren 18 000 – zuzüglich 6500 Quadratmetern im Freien, namentlich einer immensen Dachterrasse.

Drittens bezeugen Lacaton & Vassal, wie erwähnt, eine ausgesprochene Vorliebe für Gewächshäuser. Diese entspringt einem privaten Interesse – wann immer das Paar erstmals in einer fremden Stadt weilt, flaniert es dort durch den botanischen Garten. Doch die Messe für Lieferanten von Landwirtschaft und Viehzucht bei Paris besuchen die beiden alle zwei Jahre von Berufs wegen. Was sie dort entdecken, inspiriert sie oft: «Diese Produkte sind zuverlässig, präzise, effizient», so Vassal. Oft übernehmen die BaukünstlerInnen ihre dortigen «Funde» eins zu eins, verwenden sie als von fremder Hand fabrizierte Versatzstücke, weisen ihnen jedoch eine andere Bestimmung zu. So fungieren ihre Gewächshäuser nicht nur als Freiräume, die je nach Lust und Laune genutzt werden können, sondern helfen auch – zusammen mit Fenster(türe)n, Vorhängen und Sonnensegeln sowie Dachklappen –, die Temperatur, Belüftung und Helligkeit zu regulieren. «Wir vergleichen diese Elemente, die ohne jede Elektronik per Hand regelbar sind, mit Kleidern, die man je nach Wetter in unterschiedlichen Kombinationen überstreift», sagt Vassal. Eine Parallele, die der Sohn einer Nählehrerin und eines Meteorologen mit Bedacht zieht.

Zweites Leben für alte Türme

«Auf sehr einfache Art und Weise können die Nutzer unserer Bauten ihren Komfort optimieren», ergänzt Anne Lacaton. Die thermische und energetische Effizienz der genannten Elemente sei weitaus grösser als jene von isolierten Fassaden oder von Dreifachverglasungen. Im Fall des Fonds régional d’art contemporain in Dunkerque gingen die beiden sogar so weit, einem sechsgeschossigen Betonbau ein riesiges Gewächshaus überzustülpen. Dieses besteht grösstenteils aus Polykarbonat, im Erdgeschoss aber auch aus Glas und im Dachbereich aus ETFE-Kissen, einem Derivat des als Teflon bekannten Kunststoffs. Gleich einer vorgeschobenen zweiten Haut schafft diese Hülle im rauen Klima der nördlichsten französischen Hafenstadt eine Pufferzone zwischen dem Freien und den durch Glas isolierten Programmelementen im Betonbau. Verschiebbare Polykarbonatpaneele und Dachklappen ermöglichen im Sommer eine natürliche Belüftung. Doch damit nicht genug: Dieses halbtransparente Gewächshaus bildet das gespenstische Double einer unmittelbar benachbarten ehemaligen Schiffshalle, die via eine überdachte Strasse angebunden ist. Ursprünglich sollte der Fonds in diesen Industriebau einziehen, doch Lacaton & Vassal plädierten erfolgreich für seine Bewahrung als Freiraum ohne feste Funktion. Der visuelle Effekt der verfremdenden Verdoppelung ist frappant: eine Fata Morgana am Ärmelkanal!

Neben dem Lichtreichtum, der zusätzlichen Nutzfläche ohne feste Funktion und der Verwendung von Gewächshäusern haben Lacaton & Vassal noch eine weitere Spezialität: die Renovation oder eher Regeneration von Altbauten. Über Fachkreise hinaus bekannt wurden sie 2001 mit der Verwandlung des Westflügels des Pariser Palais de Tokyo in das gleichnamige Kunstzentrum. Nach einem in der Bauphase annullierten Umnutzungsprojekt hatte diese Hälfte eines 1937 erbauten immensen Art-déco-Kunsttempels jahrelang leer gestanden. Das Paar verwendete 95 Prozent des mageren Budgets von drei Millionen Euro für die normgerechte Anpassung der riesigen Räumlichkeiten und ihre Entrümpelung von Trennwänden und Zwischendecken; poliert und ästhetisiert wurde nichts. So gewann der Palais de Tokyo an Lichtfülle und Offenheit, behielt innen aber – in scharfem Kontrast zu den pompös-monumentalen Fassaden – den Charakter einer Industriebrache. Eine zweite Bauphase erschloss zwischen 2012 und 2014 bis anhin ungenutzte Gebäudeteile und verdoppelte die ursprüngliche Nutzfläche auf 16 500 Quadratmeter.

Den Hauptbeitrag des ArchitektInnenpaars in der Sparte «Regeneration» bilden jedoch die Verwandlungen der Wohntürme Bois-le-Prêtre in Paris, La Chesnaie in Saint-Nazaire und Grand Parc in Bordeaux (zwischen 2011 und 2016). Lacaton & Vassal formulierten hier eine ebenso kostengünstige wie nachhaltige Alternative zu dem in Frankreich in riesigem Umfang betriebenen Abriss der ungeliebten Wohnmaschinen aus den sechziger und siebziger Jahren. Sie erweiterten die Fassaden der drei Türme um geräumige Wintergärten mit vorgeschobenen Balkonen: So gewann jede Wohnung zwischen dreissig und vierzig Prozent Nutzfläche dazu. In Paris und in Saint-Nazaire änderten sie zudem die Raumdisposition, um offenere, lichtere Interieurs zu schaffen.

Lacaton & Vassal sind fest überzeugt, jeder Abriss sei ein gravierender Irrtum. «Trotz ihres schlechten Rufs haben diese Türme viel Positives», plädiert Lacaton. «Sie liegen im Grünen, bieten unglaubliche Ausblicke, ihre Kernstruktur ist gesund. Doch ihr grösster Reichtum sind die Bewohner, die im Lauf der Jahre und Jahrzehnte ihre Wohnungen in Lebenszellen mit starker Gefühlsbindung verwandelt haben.» Werde renoviert statt abgebrochen, konzentriere man sich üblicherweise auf die Aussenbereiche. Doch was fruchte es, Fassaden zu verkleiden und Treppenhäuser zu tünchen, wenn das Innere der Wohnungen unberührt bleibe? Gerade hier gelte es anzusetzen, mit einer massiven Zufuhr von Licht, Luft und Raum. Eine derartige Regeneration koste dreimal weniger als ein Abriss mit anschliessendem Neubau, von der Vermeidung allfälliger Traumata bei den BewohnerInnen ganz zu schweigen. Doch für drei gewonnene «Wiederbelebungswettbewerbe» haben Lacaton & Vassal zwischen fünfzehn und zwanzig verloren. BürgermeisterInnen stellen mit Abbruch-/Neubauprojekten ihren «Reformwillen» augenfälliger unter Beweis als mit der Verbesserung des Bestehenden – und generieren mit staatlich subventionierten Abrissen auch teurere Bauarbeiten, ergo höhere Gemeindesteuereinnahmen. Die Bauindustrie hat ähnliche Interessen und verkauft lieber aufwendige Heizungs- und Klimaanlagen als schlichte Polykarbonatplatten für Wintergärten, die die Stromrechnung halbieren. Und Frankreichs Agence nationale pour la rénovation urbaine subventionierte bis vor kurzem nur Abrisse, nicht Erneuerungsarbeiten.

Der Baum wächst durchs Haus

Der Geist des Bewahrens beseelt Lacaton & Vassal nicht nur, was Wohntürme betrifft. In Cap Ferret baute das Paar 1998 ein preisgünstiges Wochenendhaus auf einer bewaldeten Düne fünfzehn Meter über dem Bassin d’Arcachon. Wie die bestmögliche Aussicht bieten, ohne etliche der Pinienbäume zu fällen? Findig errichtete das Paar eine teils verglaste, teils mit Aluminium verkleidete Box auf Pfählen – und liess sechs Bäume durch sie hindurchwachsen, eingefasst in Gummigelenke. Auf zwanzig Meter hohe Pfähle griffen sie 2009 auch bei einem nicht realisierten Ökoviertelprojekt in Saint-Nazaire zurück, um einen Eschen- und Steineichenwald zu erhalten. Bisweilen verzichten die beiden sogar auf jeden (sichtbaren) Eingriff. Im Fall der Place Léon Aucoc in Bordeaux, die sie 1996 hätten verschönern sollen, befanden sie nach Gesprächen mit AnwohnerInnen, lediglich eine gründlichere Wartung sei nötig. Das künftige Berliner Museum des 20. Jahrhunderts wollten sie in ihrem abgelehnten Wettbewerbsentwurf 2016 unter der Erde erbauen, um auf der zentralen Fläche des Kulturforums den fehlenden öffentlichen Platz zu schaffen und – seltene Zurückhaltung bei VertreterInnen ihrer Zunft! – nicht das Gespräch zwischen drei Bauikonen der sechziger Jahre zu stören, Ludwig Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie sowie Hans Scharouns Philharmonie und Staatsbibliothek.

Die Architektur von Lacaton & Vassal steht für Kosteneffizienz, Rationalität, Erfüllung und zumeist auch Subversion der geforderten Leistungen (etwa, wenn als unverlangte Zugabe reichlich Freiraum mitgeliefert wird). Aber die Verwendung wohlfeiler Materialien und vorgefertigter Elemente, der Verzicht auf Endbearbeitung («eine rohe Betonwand ist mir lieber als ein schlechter Anstrich», sagt Lacaton) und das mitunter recht ungeschliffene, um nicht zu sagen heimwerkerhafte Erscheinungsbild dieser Bauten machen leicht ihre Schönheit und Fremdheit vergessen. Meist schwingen diese Qualitäten bloss mit, in der Abstufung der Helligkeitsgrade, der Leichtheit und Luftigkeit der Atmosphäre. Aber einige Projekte materialisieren Schönheit und Fremdheit in greifbarer Form. Der abgelehnte Wettbewerbsentwurf für die Maison de la culture du Japon in Paris (1990) sah eine sechsstöckige geschwungene Glasfassade vor, in deren wassergefülltem Inneren sich Fischschwärme vor den dahinter sichtbaren Galerien getummelt hätten. Blickfang von zwei nicht realisierten Museumsprojekten in London (2004) und Guangzhou (2014) sind figürliche Riesenskulpturen: eine Frau beziehungsweise fünf Widder, die jeweils den gesamten Bau durchbrechen sollten. Die Strenge der Universitätsbauten in Grenoble (1995 und 2001) und Bordeaux (2006) temperieren hinter Glas- und Metallfassaden Bougainvilleen und Bambusse beziehungsweise 700 Kletterrosen.

Lacaton & Vassal verweisen oft auf ihre Prägung durch Hauptvertreter des sogenannten Internationalen Stils (namentlich Le Corbusier, Philip Johnson, Ludwig Mies van der Rohe, Richard Neutra und Hans Scharoun) und durch Nachgeborene wie Cedric Price, Frei Otto, Alison und Peter Smithson. Stark beeinflusst hat sie auch der 2002 verstorbene Jacques Hondelatte, dessen Unterricht sie an der Architekturschule von Bordeaux geniessen konnten und mit dem sie nach der Gründung ihres Büros in engem Austausch standen. Doch daneben findet sich auch ein unerwarteter afrikanischer Einschlag. Vassal, 1954 in Casablanca geboren, schwärmt von der Grosszügigkeit der dortigen Mehrfamilienhäuser mit ihren riesigen Räumen und beeindruckenden Balkonen. Auch Djemaa el-Fna, der zentrale Platz von Marrakesch, ist mit seiner funktionalen Offenheit für die beiden ein häufiger Bezugspunkt. Bestimmend waren die fünf Jahre, die Vassal nach dem Studium in Niger arbeitete. Dort lernte das Paar von den BewohnerInnen, ökonomisch, zielorientiert und mit tabuloser Erfindungsgabe zu bauen: Jedes Element, das den gewünschten Zweck erfüllt, ist tauglich. Billig ist ihre Architektur deswegen nicht. «Wir bauen nicht zum halben Preis, sondern schaffen mit dem vollen Budget die doppelte Nutzfläche», stellt Lacaton klar. Nachhaltigkeit heisst für die BaukünstlerInnen, ein Minimum an Materialien zu verwenden und mit dem kleinstmöglichen Aufwand die grösstmögliche Lebensqualität zu schaffen. Marmor, Zwischendecken und Fussbodenleisten sucht man bei ihnen vergebens.

Akupunktur statt Brachialkur

Zur Schweiz haben die dritten französischen EmpfängerInnen des Pritzker-Preises (nach Christian de Portzamparc und Jean Nouvel) einen direkten Bezug: Anne Lacaton lehrt seit 2017 an der ETH Zürich. Die dort betriebenen Forschungen, angereichert mit eigenen Erfahrungen mit Gewächshäusern und Wintergärten, werden die beiden im Juli in einer augenzwinkernd «It Is Nice Today» betitelten Studie über Klima, Komfort und Gebrauch veröffentlichen. Vor einem Jahr konnten sie in Chêne-Bourg bei Genf einen 61 Meter hohen Büro- und Wohnturm fertigstellen. Sonst errang jedoch keiner ihrer acht Wettbewerbsbeiträge in der Schweiz den Sieg.

Was Zürich betrifft, gab es Projekte für die Errichtung von rund 190 Mietwohnungen in Schlieren, für den Bau des Forums UZH und jüngst für die Umgestaltung des Maag-Areals. Letzteres Bauvorhaben schlägt zurzeit hohe Wellen. In ihrem Wettbewerbsentwurf hatten Lacaton & Vassal – man möchte sagen: selbstverständlich – die Beibehaltung der beiden Hallen vorgesehen, die sie mit den gewünschten neuen Programmelementen überbauen wollten. Vassal vergleicht die vorgeschlagene Einfügung «eines Minimums an Pfeilern dort, wo es möglich ist» mit der delikaten Vorgehensweise eines Akupunkteurs. Das genaue Gegenteil der durch die Swiss Prime Site als Eigentümerin des Areals verordneten Brachialkur: Abriss und Neubau.