Repression in Belarus: Zehn Jahre für den Zeugen

Nr. 15 –

Lange Haftstrafen für Teenager, Opfer-Täter-Umkehr und Gerichtsverfahren, die selbst RichterInnen leer schlucken lassen: Bei der Niederschlagung der Protestbewegung in Belarus kennt das Lukaschenko-Regime kaum noch Grenzen.

«Rowdytum»: Safija Malaschewitsch

Als sich die Protestierenden durch Minsk schoben, an manchen Tagen zu Hunderttausenden, marschierte auch Safija Malaschewitsch mit. Die Menge rief «Schywe Belarus!» (Es lebe Belarus!), den traditionellen Schlachtruf der Opposition, tanzte und sang.

Malaschewitsch, damals achtzehn Jahre alt, stimmte in die Rufe und Gesänge ein. Aufnahmen zeigen eine junge Frau mit Jeansjacke, im Wind wehenden dunkelbraunen Haaren mit roten Strähnchen, aufgekratzt und in Feierstimmung, wie sie ihr Skateboard durch die Menge steuert, Limonade aus einem Plastikbecher schlürft und gemeinsam mit ihrem Freund die weiss-rot-weisse Fahne der Opposition in die Kamera hält. Der Protestzug erreichte den Unabhängigkeitspalast des Autokraten Alexander Lukaschenko, abgeriegelt von einer Phalanx aus Soldaten und Polizisten der Sondereinheit Omon. Mit einer Spraydose sprühte Malaschewitsch eine vulgäre Beleidigung auf ein Sperrgitter der Sicherheitskräfte.

Ein eiskalter Winter

Es war der 6. September 2020, ein sonniger Sonntag und einer der letzten Tage des Minsker Sommers – meteorologisch, aber auch politisch gesehen. Die Protestbewegung, die sich an den manipulierten Präsidentschaftswahlen vom 9. August entzündet hatte, war noch siegesgewiss: Lange würde sich das Lukaschenko-Regime nicht mehr halten können. Doch dann kam der Winter. Woche für Woche gab es mehr Festnahmen. Im November wurde Safija Malaschewitsch verhaftet. Im Januar sass sie dann vor Gericht, eine blasse, aber kämpferische junge Frau, ganz in Schwarz gekleidet, hinter dicken Gitterstäben. Die Vorwürfe: «schwere Verstösse gegen die öffentliche Ordnung», «Rowdytum», «Beleidigung des Präsidenten». Der materielle Schaden des beschmierten Sperrgitters wurde auf 103 Rubel beziffert, umgerechnet 36 Franken. Sie wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, ihr Freund, der die Aktion gefilmt hatte, zu eineinhalb Jahren.

352 politische Gefangene zählt die belarusische Menschenrechtsorganisation Wjasna aktuell, jeden Tag werden es mehr. Alleine im März gab es 105 Schuldsprüche gegen Personen, die als politische Gefangene eingestuft werden, mehr als drei Fälle pro Tag. So viele wie noch in keinem Monat zuvor. Laut Wjasna-Gründer Ales Bjaljazki gibt es derzeit so viele Verhaftungen, Gerichtsverfahren und Urteile, dass die Menschenrechtsorganisation gar nicht mehr dazu kommt, alle Fälle zeitnah zu dokumentieren und einzuordnen. Er schätzt die Zahl der politisch Inhaftierten inzwischen auf über 500, etwa zehn Mal mehr, als es bei der letzten grossen Repressionswelle nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 gewesen seien.

Ales Bjaljazki war selbst schon fast drei Jahre in Haft. Letztes Jahr wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. «Was derzeit im Land vor sich geht, ist beispiellos.» Bjaljazki spricht von einem «Terror des Regimes gegen die Bevölkerung» und einer «noch nie da gewesenen Vernichtung der Zivilgesellschaft». Zehntausende BürgerInnen haben das Land mit seinen gut neun Millionen EinwohnerInnen bereits verlassen. Der Menschenrechtler vergleicht die Repression mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und warnt vor einem «Nordkorea an der EU-Aussengrenze».

Am 25. März, dem «Tag der Freiheit» – ein traditioneller Protesttag in Belarus –, wirkte die Hauptstadt wie im Kriegszustand: Bilder zeigten Wasserwerfer, Militärfahrzeuge und Gefangenentransporter. Inzwischen läuft gegen die Organisation Wjasna ein Verfahren, es hat dreissig Hausdurchsuchungen gegeben, auch bei Ales Bjaljazki, der letzte Woche zu einem Verhör erscheinen musste.

Zitternder Staatsanwalt

«Versuchter Mord»: Alexander Kardsjukow

Gleichzeitig gehen die absurden Prozesse weiter, wie der von Alexander Kardsjukow aus der Stadt Brest im Westen des Landes. Wie so viele andere BelarusInnen, die in den Tagen nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen auf die Strasse gingen, sei er kein besonders politischer Mensch, meint seine Frau Maryna Kardsjukowa. Er sei zum ersten Mal überhaupt wählen gegangen, in der Hoffnung, nach 26 Jahren Lukaschenko etwas verändern zu können.

Am Abend des 11. Augusts wurde Kardsjukow zusammen mit seinem Freund Henads Schutau auf einer Parkbank von zwei fremden Männern angesprochen, angepöbelt und niedergeschlagen – so erzählte es zumindest Kardsjukow später. Aufnahmen einer Überwachungskamera vom Wohnblock gegenüber stützen diese Version. Kardsjukow konnte fliehen, doch sein Freund blieb zurück. Schüsse fielen. Einer der beiden Fremden schoss Schutau in den Nacken, nach einer Woche im Koma starb er. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den Tätern um sogenannte Tichary, Soldaten in Zivil.

Nun wurde Kardsjukow aber nicht etwa als Zeuge in einem Verfahren geladen, das den gewaltsamen Tod seines Freundes hätte aufklären sollen – dem 41-Jährigen wurde stattdessen selbst der Prozess gemacht. «Versuchter Mord» an den Soldaten wurde ihm vorgeworfen, im schlimmsten Fall steht darauf die Todesstrafe. Der Staatsanwalt sei offensichtlich unter Druck gestanden, er habe gezittert und sich setzen müssen, als er zehn Jahre Haft für den Angeklagten forderte, erinnert sich Maryna Kardsjukowa. Selbst der Richterin sei beim Urteil fast die Stimme weggeblieben. Doch das Gericht folgte dem Staatsanwalt. Die Vermutung liegt nahe, dass das Regime lieber einen Zeugen zehn Jahre hinter Gitter sperrt, als eine Gewalttat in den eigenen Reihen aufzuklären. «Hier wurde aus einem Opfer ein Täter gemacht», sagt Ales Bjaljazki, der Menschenrechtler. Das Urteil wird zwar angefochten, aber Maryna Kardsjukowa macht sich keine Hoffnungen, solange Lukaschenko an der Macht ist. Es gebe Momente, in denen sie verzweifelt sei, sagt sie am Telefon. Beim Gedanken an ihren gemeinsamen zehnjährigen Sohn etwa, der wohl schon erwachsen sein werde, wenn der Vater freikomme. Doch dann beruhigt sie sich wieder: «Ich muss dankbar sein, dass mein Mann noch lebt. Henads tut das nicht.»

Der Fall Kardsjukow steht stellvertretend für viele andere Fälle – und die eklatante Schieflage bei den Prozessen, die derzeit laufen: Hunderte Menschen wurden wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt verurteilt, so etwa die schweizerisch-belarusische Doppelbürgerin Natallia Hersche, die einem Polizisten die Sturmhaube vom Gesicht riss und dafür zweieinhalb Jahre ins Gefängnis muss. Zugleich wurde aber kein einziger Fall von Polizeigewalt untersucht, allen Berichten über Gewaltexzesse, Folterungen und sogar Tote zum Trotz. Lukaschenko hält seine schützende Hand über die «silowiki», den mächtigen Sicherheitsapparat aus Polizei, Militär und Geheimdienst. Die Schauprozesse erfüllen zwei Funktionen: die belarusische Protestbewegung einzuschüchtern, wegzusperren oder ausser Landes zu jagen und zugleich den «silowiki» zu signalisieren, dass das Regime zu ihnen hält, komme, was wolle. Ein blutiger Poker, der Lukaschenko bis heute an der Macht hält.

«Verschobene Grenzen»

Die Repression richtet sich inzwischen gegen alle, die sich bei den Protesten engagieren: Künstlerinnen, Aktivisten, Ärztinnen, Musiker, Studierende, Literaturübersetzer. Und auch gegen JournalistInnen. Davon kann Maryna Solatawa, Chefredaktorin des populären unabhängigen Nachrichtenportals tut.by, ein Lied singen. Solatawa hat schon viel erlebt. Sie wurde verhaftet, verklagt, tut.by drohte mehrmals das Aus. Doch dann kam es im November zu einem Mord, der das ganze Land erschütterte: Ein junger Aktivist, Roman Bondarenko, wurde in einem Minsker Hinterhof von unbekannten Männern in Zivil zusammengeschlagen und auf eine Polizeistation gebracht. Später erlag er seinen Verletzungen im Spital.

Woran war Bondarenko gestorben? Alkoholvergiftung, hiess es offiziell. Doch auf dem Nachrichtenportal tut.by zitierte die Gerichtsreporterin Kazjaryna Barysewitsch aus seiner Krankenakte: Bondarenko war nüchtern. Doch wie schon im Fall Kardsjukow belangten die Behörden nicht die «silowiki», sondern die Reporterin. Der Vorwurf? «Verrat medizinischer Geheimnisse», auch der Arzt wurde angeklagt, der ihr die Akte geleakt hatte. Im März verurteilte das Gericht Barysewitsch zu sechs Monaten Haft. Dabei hätte es noch schlimmer kommen können, wie Chefredaktorin Solatawa glaubt. Erst im Februar waren zwei Kolleginnen vom unabhängigen TV-Sender Belsat für einen Livestream zu zwei Jahren Straflager verurteilt worden. Barysewitschs Strafe, ein Urteil, das vor einem Jahr noch undenkbar gewesen wäre, sorgte also für ein Aufatmen in der ganzen Medienbranche. Solatawa: «Das zeigt, wie sehr sich die Grenzen schon verschoben haben.»

Meteorologisch hat in Belarus der Frühling schon begonnen. Doch das Land steckt politisch noch immer tief im Winter, die Aussichten bleiben düster. Aber es gibt einen Gedanken, mit dem sich Maryna, die Frau des politischen Gefangenen Alexander Kardsjukow, tröstet: «Der eine musste nur seine Freiheit opfern», sagt sie, «der andere sein Gewissen.»