Erwachet!: Die flotte Norma

Nr. 16 –

Michelle Steinbeck über die Rückkehr zu dem, was angeblich mal war

Aus heiterem Himmel schlagen die Lockerungen ein. Blitzdonnerwetter! Verdattert stehen sie da, die quasi von heute auf morgen wieder dürfen-müssen. Verdächtiges Glück, kaum zu fassen. Überraschung! Freut ihr euch nicht? Es ist doch alles klar: Risiko? Vertretbar – der Tod gehört nämlich zum Leben. Planbarkeit? You wish!

Und jetzt hopp, hopp, alle auf ihre Posten. Ihr wisst schon, Solidarität und so. Das Volk kann nicht mehr – es braucht seine Dosis Poesielesung nach dem täglichen Humpen und Pumpen. Wer hätte das gedacht.

Nennt es Frühlingszoommüdigkeit oder politische Depression, mir ist gerade wenig danach. Statt jubelnd aus dem Fenster zu klatschen, mit offenen Armen den schier unendlichen Möglichkeiten entgegenzurennen, beobachte ich ruhig die Strasse. Zufrieden wie eine Hauskatze: Es ist wieder etwas los. Ein Auto streikt. Ich schicke solidarische Grüsse.

Den lieben langen gottlosen Sonntag verbringt der Nachbar damit, seinen Motor zu starten. Lautstark und kläglich, zu Beginn noch mit einem zuversichtlichen Lächeln. Ein Freund ist schnell zur Stelle: Überbrücken und Starthilfe, kein Problem. Zu lüpfiger Tanzmusik werden farbige Kabel ausgerollt, es wird gewerkelt und gewartet.

Viele Stunden und Expertisen später schreit ein gut gelaunter TCSler in den Sonnenuntergang: «So, jetzt müssen wir aufgeben. Du darfst entscheiden: Soll ich ihn abschleppen, oder machst du das selber?» Die kleinlaute Antwort folgt nach Mitternacht, als nur noch die rolligen, an der Regenrinne hängenden Katzen zu hören sind: Verschämt keucht der Motor ein letztes Mal. Manchmal gibt es einfach nichts mehr zu sagen. Bullshitting hat die Schlacht gewonnen.

Das Auto und ich zappen die Pressekonferenz weg und erzählen uns eine Geschichte: Die Vernunft wird in den Keller gesperrt und die sogenannt alte, angeblich heiss ersehnte «Normalität» an den Haaren heraufgezerrt. Hier habt ihr sie! Die flotte Norma, fast so locker wie eh und je. Wie, ihr erkennt sie nicht? Seid doch nicht schüchtern: Tanzt mit ihr, und freut euch des Lebens! Wie früher, als alles gut war, so herrlich normal. Wer könnte das vergessen.

Auch die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk erinnert sich. Sie gab kürzlich zu bedenken: Könnten nicht vielmehr diese pandemischen Zeiten eine Rückkehr in die Normalität bedeuten?

Ich schliesse die Augen und kehre zurück, in die Normalität der vergangenen Nacht. Im Traum lebte ich in einem Haus, gross wie eine Stadt. So lebendig, dass ich niemals schlafen konnte, was würde ich alles verpassen! Herumstreunen lohnt sich selbst in den staubigsten Läden: Die Verkäuferin zieht eine geheime Schublade auf und bietet mir einen Baseballschläger an. Uh, sehr chic! Ihr Name ist Norma. Ich bin ihr sogleich verfallen und verspreche, zur Revolte zu kommen. Aber dann ist da noch das Motorrad: Es gehört einer Nachbarin mit drei Söhnen, die ich beeindrucken will. Ich hatte geprahlt, es reparieren zu können, und nun sitze ich da, mit diesen unzähligen farbigen Kabeln … Auf dem Sattel sitzt Surrealist André Breton und baumelt mit den Füssen. Er ist keine grosse Hilfe, jedenfalls nicht mit den Kabeln. Wir summen ein Lied ohne Melodie, seltsam zuversichtlich.

Michelle Steinbeck ist Autorin in einer surrealistischen Welt, in der alles möglich ist.