Tschernobyl: Die verlorenen Schweizer Mädchen

Nr. 16 –

Das kollektive Gedächtnis unserer Zeit sind TV-Serien. Sie formen unsere Erinnerungen, auch an Ereignisse, deren Zeuge man gar nie wurde: Was auf Netflix kommt, existiert. Nicht Netflix, aber der US-Bezahlsender HBO hat die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 dramaturgisch in einer Miniserie verarbeitet. Etwas tut die Serie besonders gut: Sie fängt die Momente der Sorglosigkeit kurz nach der Kernschmelze ein – nur um sie der aufziehenden, aber unsichtbaren Apokalypse preiszugeben.

Die Gefahr von Tschernobyl, von der Nutzung der Atomenergie überhaupt, steckte immer im Verborgenen und Beständigen. Und das Unheil liegt noch heute in Europa und der Schweiz, fein verteilt, in den Sedimenten, in den Pflanzen, in unserem Erbgut. Damit das nicht vergessen geht, hat die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Gruppierung ÄrztInnen zur Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) die Folgen des Unglücks für die Schweiz neu aufgearbeitet.

Die statistische Auswertung zeigt Erschreckendes: In den ersten sieben Jahren nach der Katastrophe kam es in der Schweiz insgesamt zu rund 200 zusätzlichen Totgeburten, und 400 Kinder mehr als im langjährigen Mittel starben noch vor ihrem ersten Geburtstag. Sichtbar macht das die Sterblichkeitskurve, die 1987 einen Sprung macht und fortan auf erhöhtem Niveau weiterverläuft. Selbst niedrige Dosen ionisierender Strahlung können Mutationen der Erbsubstanz auslösen. Säuglinge und Kleinkinder reagieren darauf besonders empfindlich. Auch einen weiteren Effekt hat die Dauerbestrahlung: Sie verändert das Geschlechterverhältnis. Zwischen 1987 und 2019 gingen der Schweiz laut Statistik 3200 Mädchen verloren. Klinisch erfasst wurden diese nicht, da es sich vermutlich um frühe Fehlgeburten handelte.

All diese Auswirkungen zeigen sich nicht nur in der Schweiz, sondern in weiten Teilen Europas – nicht aber in den USA, wohin die radioaktiven Winde nicht gelangten. Dass auch 35 Jahre nach der Kernschmelze in Tschernobyl noch deren Folgen aufgezeigt werden, ist wichtig. Genauso wie die TV-Serie. Damit im Bewusstsein bleibt, was leicht entgleiten kann: die unsichtbare, tödliche Gefahr der Atomkraft.