Seenotrettung : Tödlicher Normalzustand

Nr.  17 –

Nach langer Suche auf stürmischer See entdeckte die «Ocean Viking» am Donnerstag letzter Woche schliesslich das havarierte Schlauchboot. «Als wir uns ihm näherten, trieb es in einem Meer von Leichen», schrieb ein Crewmitglied des Rettungsschiffs von SOS Méditerranée in einem Blogeintrag. Beim Unglück nordöstlich von Tripolis sind bis zu 130 Menschen ums Leben gekommen.

Die Tragödie wirft ein weiteres Schlaglicht auf den tödlichen Normalzustand im Mittelmeer vor der nordafrikanischen Küste, im direkten Einflussbereich Europas. Der Einsatzbericht der zivilen Koordinationsstelle Alarmphone lässt das Kalkül erkennen, mit dem Europas Peripherie auch während der Coronakrise versiegelt bleibt: Obwohl die Leitstellen der Seenotrettung in Italien und Malta früh über die Notlage informiert waren, obwohl zwischenzeitlich mutmasslich ein Frontex-Flugzeug über dem Unglücksort kreiste und auch die sogenannte Küstenwache Libyens kontaktiert worden war, blieben die in Seenot geratenen Menschen während Dutzenden Stunden sich selbst überlassen. Damit stieg die Zahl der Flüchtenden, die seit Jahresbeginn auf dem Mittelmeer ums Leben kamen, gemäss der Uno-Flüchtlingsagentur UNHCR bereits auf über 600.

«Machtlos hielten wir eine Schweigeminute ab, die an Land widerhallen sollte», schrieb das Crewmitglied der «Ocean Viking» in seinem Text: «Die Dinge müssen sich ändern, die Menschen müssen es erfahren.» Wenn die SeenotretterInnen auf dem Festland weiterhin Empörung über die europäische Hilfsverweigerung einfordern, dann kommt das fast schon einer Trotzreaktion gleich. Denn insgeheim wissen sie: Wer das Sterben bis jetzt hingenommen hat, wird es weiterhin tun. Niemand kann behaupten, nicht um das tödliche Leid zu wissen. Verantwortlich dafür sind die BeamtInnen des Abschottungsapparats, die zahllosen PolitikerInnen, die mit eisernem Schweigen und Wegschauen sichere Fluchtwege nach Europa verhindern – aber auch all jene, die sie bei der nächsten Gelegenheit wieder ins Amt wählen.