Ein kompliziertes Geflecht von Gewässern Die Schweiz hat mehr als vier Sprachen. Und keine einzige ist natürlich gewachsen.
Was sind eigentlich «Landessprachen»? Nein, es sind nicht die Sprachen, die in einem Land gesprochen werden. Landessprachen sind jene Sprachen, die im 18. und 19. Jahrhundert als politisches Instrument eingesetzt wurden, um die Idee der «Kulturnation» durchzusetzen. Diese Idee hat uns, gelinde gesagt, ziemlich viele Probleme eingehandelt. Sie hat unter anderem dazu geführt, dass wir EuropäerInnen heute in einer Welt leben, in der Vielfalt – eine der wenigen kulturhistorischen Konstanten – als Problem betrachtet wird. In einer Welt, in der sich ein Land unkonventionell, gar fortschrittlich vorkommt, wenn es vier Landessprachen hat.
Vier Landessprachen, das klingt nach Diversität, Toleranz und Weltläufigkeit. Selbst dann, wenn diese vier Landessprachen geografisch fein säuberlich getrennt sind und der Austausch unter den Angehörigen der verschiedenen Sprachgruppen kaum stattfindet. Dieses selbstgefällige Bild, das die Schweiz pflegt und auch im Ausland erfolgreich verkündet, verstellt unseren Blick auf die eigentliche Funktion von Landessprachen.
Ein erschütternder Blick
Die wichtigste Aufgabe der Landes- oder Nationalsprachen im 19. und 20. Jahrhundert bestand darin, die anderen Sprachen zu übertönen und die Angehörigen anderer Sprachgemeinschaften zu unterdrücken. Landessprachen sind deshalb das Gegenteil von kultureller Vielfalt. Der Leitgedanke dahinter heisst: Trennung, Säuberung, Eindeutigkeit. Auch in der Schweiz.
Obwohl in Europa in den vergangenen zwei Jahrhunderten sehr viel Aufwand betrieben wurde, um eine saubere Ordnung herzustellen, hat es kein einziges Land geschafft, seine traditionellen Minderheitensprachen zu vernichten. Heute gelten diese Minderheitensprachen als Kulturerbe, werden von der «Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen» geschützt, in vielen Ländern haben einige davon auch den Status einer Amtssprache.
Wenn wir uns etwas auf die viersprachige Schweiz einbilden, wird uns der Blick auf unsere Nachbarländer erschüttern: In Österreich, das von der EinwohnerInnenzahl mit der Schweiz vergleichbar ist, spricht man traditionellerweise nicht nur Deutsch, sondern auch Kroatisch, Slowenisch, Ungarisch, Tschechisch, Slowakisch und Romanes. In Deutschland gelten Dänisch, Ober- und Niedersorbisch, Nord- und Saterfriesisch sowie Romanes als geschützte Minderheitensprachen. In Frankreich, das schon sehr früh eine nationale Standardsprache vorgegeben hat, werden nach wie vor Baskisch, Bretonisch, Katalanisch, Korsisch, Flämisch, Deutsch (Elsässisch und Fränkisch), Okzitanisch und Provenzalisch gesprochen. Und Italien … würde den Umfang dieses Textes sprengen.
Natürlich kann man argumentieren, dass die Schweiz im Gegensatz zu den Nachbarländern auch die Minderheitensprachen schon länger politisch gepflegt und gefördert hat. Doch das Problem, das durch die Pflege der zu Landessprachen erhobenen Idiome entsteht, ist überall das gleiche: Die tatsächliche Sprachenvielfalt wird dadurch nicht gefördert, sondern unterdrückt.
Gemischte Mischung
Es ist deshalb auch ein zweischneidiges Unterfangen, wenn die EU nun die Minderheitensprachen schützt. Zwar wird damit versucht, einen gravierenden Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Doch leider bleibt man in einer Ideologie der Ursprünglichkeit und Echtheit verhaftet, wie sie für die historisch wohl einmalige Idee der Kulturnation typisch ist. Laut der Charta sind als «Minderheitensprachen» nur jene Sprachen zu verstehen, die zur «geschichtlich gewachsenen Tradition» eines Landes gehören. Sprachen von «Zuwanderern» sind ausdrücklich ausgeschlossen, obwohl wir wissen, dass alle Sprachentwicklung mit Migrationsbewegungen zu tun hatte.
Rätoromanisch zum Beispiel, das heute für die historische Linguistik genauso wie für die zeitgenössische Literatur einen wahren Schatz darstellt, ist keineswegs wie eine Pflanze «gewachsen». Die Sprache ist das vorläufige Ergebnis eines Austauschprozesses, der nur deshalb stattfindet, weil sich Menschen bewegen. Die lateinische Sprache kam überhaupt erst in den Alpenraum, als die RömerInnen diese Gegend 15 vor unserer Zeitrechnung eroberten. Das Lateinische mischte sich mit den keltischen und rätischen Sprachen, die von den Einheimischen damals gesprochen wurden.
Diese Mischung mischte sich später wiederum mit der Sprache der romanisierten KeltInnen, die im 4. und 5. Jahrhundert in die Alpen geflohen waren. Dass der lateinische Einfluss die Sprache bald dominierte, lag vor allem daran, dass sich Latein im 5. Jahrhundert in der ganzen Schweiz durchsetzte. Es war einfach praktisch, Latein zu sprechen, weil alle anderen auch Latein sprachen. Spuren des Keltischen und des Rätischen blieben nur in Dorf- und Flurnamen erhalten. Doch dann kamen auch schon die AlemannInnen: Sie rückten ab dem 5. Jahrhundert das Rheintal aufwärts und brachten noch einmal eine andere Sprache mit. Später besiedelten die WalserInnen mit ihrem germanischen Idiom die höheren Alpenregionen, was sowohl zum Austausch als auch zur Abgrenzung zwischen den zwei Sprachgruppen führte … und so weiter.
Vom Regen und vom Tau
Was dieses Beispiel zeigt: Wir müssen uns die Entwicklung von Sprachen nicht wie eine wachsende Pflanze vorstellen, sondern wie ein kompliziertes Geflecht von Gewässern. Was eine Sprache ausmacht und wohin sie sich entwickelt, hängt von unzähligen Quellen, Strömen, Bächen, Rinnsalen, vom Regen und sogar vom Tau ab.
Die Frage, welche Sprachen Teil einer «geschichtlich gewachsenen Tradition» sind, ist deshalb schlicht absurd. Sie ist zwar aus politischer Sicht nachvollziehbar, weil das Argument des «Ursprünglichen» in vielen Ländern Europas immer noch die einzige Möglichkeit ist, Idiomen von Minderheiten überhaupt Geltung zu verschaffen.
Doch als BewohnerInnen der Gegenwart müssen wir uns fragen: Warum sollen wir 200 Jahre warten, bis wir die heutige Sprachenvielfalt in Europa und in der Schweiz als traditionell anerkennen, schützen und fördern? Beginnen wir doch jetzt! Lassen wir diese traurige Epoche der Säuberungen und der Repression hinter uns und wagen den Versuch, die tatsächliche Vielfalt der Schweiz zu geniessen.