Antiterrorgesetz PMT: «Niemand sieht sich selbst, wenn er an einen Terroristen denkt»

Nr. 21 –

Was denkt jemand beim Studium der hiesigen Antiterrorvorlage, der sich mit den Folgen ähnlicher Gesetze in Westafrika beschäftigt? Ein Gespräch mit dem liberianischen Menschenrechtsverteidiger Alfred Brownell.

Alfred Brownell

WOZ: Herr Brownell, Sie haben an einem Report über die Situation von MenschenrechtsverteidigerInnen in Westafrika mitgearbeitet. Der Bericht kommt zum Schluss, dass Antiterrormassnahmen eingesetzt werden, um Kritikerinnen und Kritiker zu unterdrücken. Können Sie das Problem erläutern?
Alfred Brownell: Ich komme aus Liberia, einem fragilen und unsicheren Staat – aus einer Region, in der wir eine rasante Zunahme der Gewalt erlebt haben ebenso wie die Versuche der Regierungen, diese Zunahme aufzuhalten. Diese Versuche sind jedoch nicht nur gescheitert, sie haben das Problem sogar noch verschärft.

Woran lässt sich das aufzeigen?
Die meisten Antiterrorgesetze stellen die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte infrage. Überall auf der Welt haben wir in den letzten Jahren beobachten können, wie Staaten als Reaktion auf terroristische Bedrohungen und zum Schutz ihrer Demokratie ihre demokratischen Grundpfeiler aufgegeben haben. Auch in Westafrika. In Benin wurde 2018 ein neuer Gerichtshof für Drogenhandel, Wirtschaftsverbrechen und Terror geschaffen. Er verurteilte bald darauf einen Oppositionsführer zu zwanzig Jahren Haft. In Burkina Faso wurde ein Antiterrorgesetz erlassen, das die «Demoralisierung» von Sicherheitskräften unter Strafe stellt – und Journalisten zur Selbstzensur bewegt. Und in Nigeria verleiht ein Antiterrorgesetz der Polizei die Macht, ohne Gerichtsbeschluss Menschen für dreissig Tage in Lagern zu inhaftieren. Es ist zentral zu erkennen, dass die Staaten damit ihre Demokratie nicht schützen, sondern sie untergraben.

Mit welchen Folgen?
Ich will hier nicht zu sehr ins Detail gehen, aber in der Sahelzone hat sich etwas ergeben, was ich ein fünffaches Tötungsnetz nenne. Wieso fünffach? Weil sich in den letzten Jahren fünf verschiedene Bedrohungen für die Bevölkerung herausgebildet haben: sogenannt terroristische Gruppen, Strassenkriminalität, das organisierte Verbrechen, Bürgerwehren – und die Sicherheitskräfte der Regierung. Die Menschen vor Ort sind darin gefangen; es gibt kaum Auswege mehr. Der Staat wurde ein Teil davon, statt eine Alternative zu bieten.

Was wäre denn eine angemessene Art, der Bedrohung durch zunehmende Gewalt zu begegnen?
Der einzige Weg, aufkeimender gewalttätiger Ideologie zu begegnen, ist es, die demokratischen Grundrechte und die Menschenrechte zu stärken. Alles andere ist gefährlich – auch für die Schweiz.

Die Situation in der Schweiz ist kaum mit jener in Liberia zu vergleichen …
Natürlich steht das Schweizer Antiterrorgesetz in einem sehr anderen Kontext als vergleichbare Massnahmen in der Sahelzone. Aber die Schweiz versteht sich als Behüterin der Menschenrechte, und sie wird von vielen auch so wahrgenommen. Als «westliche Demokratie» setzt sie Standards. Wenn sie Gesetze erlässt, funktioniert das als Signal: Dadurch werden Massnahmen wie etwa die Schwächung der Judikative normalisiert. Sinkende demokratische Standards in westlichen Ländern ebnen den Weg für autoritäre Regimes, es ihnen nachzutun. Gleichzeitig negiert die Schweiz ihre moralische Autorität – und verwirkt ihr Recht darauf, andere Länder über die Menschenrechte zu belehren. Dabei wären gerade jetzt – während dieser Pandemie, in der der Weg des Multilateralismus geschwächt wurde – alle Staaten besonders gefordert: Es darf keine Abwärtsspirale hin zum Abbau der Demokratie geben.

Sie haben im Vorfeld dieses Interviews die Schweizer Vorlage etwas genauer studiert. Ihre Einschätzung?
Mit dem Gesetz wird den Behörden – vor allem der Polizei – mehr Macht gewährt. Soweit ich das beurteilen kann, ist der Gesetzestext sehr vage gehalten. Nehmen Sie zum Beispiel den Begriff «potenzieller Terrorist». Schliessen Sie die Augen, und stellen Sie sich ihn vor. Niemand hat sich selbst vor Augen, alle stellen sich jemand ganz anderes vor. Wenn aber plötzlich Ihre Lehrerin, der Pfarrer, die Schulfreundin verhaftet wird – basierend auf vagen Gesetzen ohne demokratische Kontrolle –, dann merken auch Sie, dass es zu spät ist.

Davon sind wir aber noch weit entfernt.
Wissen Sie, es gibt dieses Narrativ der westlichen Einzigartigkeit: diese tiefe Überzeugung in vielen Ländern, dass ihre demokratischen Institutionen für immer intakt bleiben werden. Das merke ich immer wieder, wenn ich mit Freunden spreche. Aber wir, die wir diese Spirale schon erlebt haben – wir sehen, riechen, wir merken, wenn es kommt: Wenn solche Gesetze eingeführt werden, kennen wir die Richtung, in die der Trend zeigt. Wenn der Sicherheit derartige Autorität eingeräumt wird, wenn die Definition von Verbrechen so vage formuliert wird, wenn die Menschenrechte nicht im Zentrum des Gesetzgebungsprozesses stehen, wird das zu einem Problem. Diese Vorlage ist eine rote Flagge, man hört die Alarmglocken läuten. Ich bin schockiert, dass die Schweizer sie nicht zu hören scheinen. Ich will hier nicht belehren, aber ich glaube, es ist wichtig, meine Erfahrung zu teilen: Ich habe ganze Städte in Flammen aufgehen sehen aufgrund von Gesetzen, die die Demokratie ausgehöhlt haben. Solche Gesetze wirken der Gewalt nicht entgegen, sondern befeuern sie.

Aber wir stimmen ja nicht über Folter oder Gefangenenlager ab, sondern über vergleichsweise harmlose Einschränkungen.
Ich bin überzeugt, dass man die Macht kleiner Gesetzesänderungen nie unterschätzen sollte. Wenn jemand aufgrund unklarer Gründe von Antiterrormassnahmen betroffen ist – ohne Unschuldsvermutung, ohne überhaupt schon etwas getan zu haben: Dann führt das zu einer Gegenbewegung. Bei dieser Person, aber auch in ihrem Umfeld. Zentral ist, dass viele Stereotype darüber bestehen, wer Terroristen sind, wie sie aussehen und welcher Community sie angehören. Diese wird damit zur Zielscheibe. Gesellschaften sind fragil und anfällig für solche Angriffe. Auch die Schweiz. Ihr seid nicht immun: Seid sehr vorsichtig. Denn das ist die falsche Art, auf die Bedrohung durch gewalttätige Ideologien zu reagieren. Wenn Staaten ihre Rechte nicht schützen, sondern abbauen, werden sie damit keinen Erfolg haben, sondern sich selbst dem Terrorismus annähern.

Alfred Brownell

Der liberianische Aktivist, Menschenrechtsanwalt und Gründer von Green Advocates International wurde vor allem mit seinem Engagement gegen die Rodung von 2000 Quadratkilometern Wald zugunsten einer Palmölplantage in Liberia bekannt. 2019 bekam er dafür den Goldman Environmental Prize. Von den Behörden der Sabotage und «Entwicklungsfeindlichkeit» bezichtigt, musste er 2016 aus Liberia flüchten.

Heute lebt Brownell in Boston, wo er unter anderem an der Northeastern University als Rechtsprofessor arbeitet.