«Man muss nicht paranoid sein, um sich Sorgen zu machen» Hat der «War on Terror» die Welt sicherer ­gemacht? Was droht uns als Nächstes? Der ehemalige IKRK-Delegierte und heutige Amnesty-Kampagnenleiter ­Patrick Walder im Gespräch.

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WOZ: Patrick Walder, nun jähren sich die Anschläge vom 11. September zum zwanzigsten Mal. Welche Grenzüberschreitung im auf sie folgenden sogenannten War on Terror hätten Sie nicht für möglich gehalten?
Patrick Walder: Die grösste Überraschung war, als wir damals mit dem IKRK in Afghanistan auf die Geheimgefängnisse der CIA stiessen: ein Blick in einen Abgrund. Aber Überraschung ist das falsche Wort, es war eher eine Traumatisierung. Vor allem hat es mir gezeigt, dass in diesem Kampf auch grundsätzliche Regeln wie Völkerrecht und Menschenrechte für den Westen kaum mehr zählen. Später kamen neue Überschreitungen hinzu, wie etwa die Enthüllungen durch Edward Snowden zeigten.

Nach dem 11. September 2001 starteten die USA den «War on Terror». Wie reagierte Europa?
Mit bedingungsloser Solidarität. Das Bemerkenswerte war, dass die Nato erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausrief. Im Grunde hat der Krieg gegen den Terror den Kalten Krieg abgelöst. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war der US-Sicherheitsapparat desorientiert und ohne Feind. Der neue Krieg hat der Sicherheitsindustrie grosse Budgets und politischen Einfluss gesichert. Auf 9/11 folgte eine Militarisierung der Aussenpolitik – und beim Krieg in Afghanistan haben die europäischen Staaten bis vorgestern mitgemacht, einige auch beim Angriffskrieg gegen den Irak. Diese Mobilmachung gegen muslimische Länder und deren Bevölkerung wäre ohne den «War on Terror» nicht vorstellbar gewesen.

Abgesehen von den Kampfeinsätzen: Wie waren die europäischen Länder konkret eingebunden?
Sie haben die CIA-Gefängnisse in Osteuropa zugelassen, in Guantánamo und Afghanistan Befragungen von Gefangenen durchgeführt. Und beim «Rendition»-Programm der CIA, den Entführungs- und Folterflügen, war Europa – und übrigens auch die Schweiz – Komplize. Bis in die dunkelsten Abgründe gab es eine enge Kooperation – und es gibt sie bis heute: Der US-Drohnenkrieg wird auch über Deutschland gesteuert, bei der globalen Massenüberwachung spielt Grossbritannien eine zentrale Rolle.

Zuerst richtete sich der Antiterrorkampf gegen die muslimische Welt. Ab wann gerieten die eigenen BürgerInnen ins Visier?
Mit den Anschlägen in Paris oder Brüssel kam ab 2015 in fast allen europäischen Ländern eine Welle neuer Gesetze und Massnahmen. Der Feind, der bis dahin relativ weit weg war, erreichte Europa – und damit auch die Mobilisierung dagegen.

Was waren die wichtigsten Massnahmen in diesem Antiterrorkampf?
Auch wenn das keine eigentliche Massnahme ist: Zentral ist die Terrorismusdefinition. Da es keine international anerkannte völkerrechtliche Definition gibt, haben Staaten den Begriff immer neu definiert und ständig ausgeweitet. «Terrorismus» ist zum Kampfbegriff geworden, mit dem Regierungen ihrem Gegner jede Glaubwürdigkeit rauben. Da fallen heute Delikte drunter, die mit politischer Gewalt nichts zu tun haben. In dieser Tradition steht auch das neue Schweizer Polizeimassnahmengesetz, kurz PMT, in dem schon die Verbreitung von Furcht und Schrecken als Terror gilt. Die Folgen sieht man in vielen Ländern: In Ägypten oder der Türkei wird mit dem Begriff die Opposition verfolgt. In Spanien werden Rapper wegen Terror angeklagt, in Ungarn Flüchtlingshelfer, auf Malta Geflüchtete. Das Perfide am «War on Terror»: Mit der Delegitimierung des Gegners raubt man sich die Möglichkeit für eine politische Lösung, es bleibt nur die Eskalation.

Mit den neuen Antiterrorgesetzen gab es ja auch auf rechtlicher Ebene einen Paradigmenwechsel.
Erstens hat im Strafrecht eine Verschiebung in den präventiven Bereich stattgefunden. Man will Anschläge verhindern und bereits Vorbereitungshandlungen strafrechtlich verfolgen, was zuerst einmal einleuchtet. Dieser Trend hat dazu geführt, dass Handlungen immer stärker im präventiven Bereich kriminalisiert werden, auch wenn sie nichts mit Gewalt zu tun haben. Zweitens gibt es eine Verschiebung vom Strafrecht zu präventiven Polizeimassnahmen – wie beim PMT: dass Leute als gefährlich eingestuft und mit Zwangsmassnahmen belegt werden, bevor sie überhaupt einer Straftat verdächtigt werden.

Wenn wir nach zwanzig Jahren Bilanz ziehen: Wo war der «War on Terror» erfolgreich, welche Schäden hat er hinterlassen?
Die militärische Intervention in Afghanistan, um ein aktuelles Beispiel zu wählen, hat letztlich nichts als Leid, Tod und Vertreibung für Hunderttausende Menschen gebracht. Im Irak bekämpfte man Gruppen wie al-Kaida – und trug damit zur Gründung des IS bei. Ich kann diesem Krieg keine positiven Seiten abgewinnen.

Wo sehen Sie die Motive dafür, dass in diesem Krieg die Menschenrechte vernachlässigbar wurden?
Nehmen wir die Militarisierung der Politik: Die USA befinden sich seit Jahrzehnten permanent im Krieg, im Aus- wie im Inland. Der einstige Krieg gegen das Verbrechen wurde von den Kriegen gegen die Drogen und gegen den Terror abgelöst. Diese Notstandsmobilisierung gibt dem Staat ständig neue Instrumente in die Hand, um die Kontrolle der Bevölkerung weiter auszubauen. In demokratischen Staaten kann man mit Sicherheitspolitik immer gewinnen: Man definiert einen Feind oder eine Bedrohung – ob das die Geflüchteten sind oder der Terror –, lenkt bereits bestehende Ängste dorthin und bietet populistisch simple Rezepte dagegen an. Diese Art von «Law and Order»-Politik kann eigentlich nie schiefgehen, auch wenn die Rezepte zum Teil grotesk sind und nicht viel bringen. Hinzu kommt, dass das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der Menschen so kanalisiert wird, anstatt sich den grossen Sicherheitsfragen zu stellen: der Klimakrise, der wachsenden sozialen Ungleichheit, der unsicheren Altersversorgung. Mit äusseren Bedrohungen wie dem Terror lassen sich solche komplexen Fragen gut überdecken.

Wieso ist eine Mehrheit der Bevölkerung bereit, ihre Grundrechte für vermeintliche Sicherheit aufzugeben?
Sicherheit ist ein viel grundlegenderes Bedürfnis als individuelle Freiheit. Bei einer solchen Gegenüberstellung gewinnt also fast immer die Sicherheit. Ich glaube aber, dass die Gegenüberstellung falsch ist. Was ist Sicherheit überhaupt? Ich fühle mich dann sicher, wenn meine Rechte und Freiheiten respektiert sind, es ist also kein Widerspruch.

Wie verhält sich die Schweiz in diesem Gefüge? Wann sagte sie dem Terror den Kampf an?
Nach 2015 beschloss auch die Schweiz eine neue Antiterrorstrategie. Das Nachrichtendienstgesetz etwa wäre ohne den Verweis auf die Terrorbedrohung niemals durchgekommen. Es ermöglicht eine sehr weitgehende Überwachung, die in der Folge des Fichenskandals vorher undenkbar war. Auch ein zweites Überwachungsgesetz und zwei neue Antiterrorgesetze wurden durchgewinkt. Dafür, dass die Schweiz bei Gesetzgebungsprozessen sonst recht langsam ist, ging es in diesem Bereich erstaunlich schnell.

Im Juni wurde das PMT angenommen. Wohin geht der Trend?
Je mehr man sich in den präventiven Bereich bewegt, desto mehr Überwachung braucht man. Um «potenziell gefährliche Personen» schon im Vorfeld identifizieren zu können, braucht man grossflächige Datensammlungen: eine Art Rasterfahndung über unsere Daten und Social-Media-Posts mit Indikatoren wie Herkunft, Religionszugehörigkeit, Alter oder Geschlecht. Die Folge ist mehr Überwachung – und der nächste Schritt ist bereits geplant: eine Revision des Nachrichtendienstgesetzes, bei der Überwachungsmassnahmen, die heute nur in Bereichen wie Terror oder Spionage zulässig sind, auf «gewalttätigen Extremismus» ausgeweitet werden. Obwohl der Bundesrat bei der Einführung des Gesetzes versprochen hatte, darauf werde verzichtet, will er es jetzt doch einführen. Dabei hinterlassen wir unsere Daten ständig irgendwo, ohne Kontrolle darüber zu haben. Wichtig ist dabei das Zusammenspiel staatlicher Akteure mit privaten Firmen wie Facebook, aber auch die Rolle von Datenbrokern wie der Firma Palantir. Man muss nicht paranoid sein, um sich Sorgen zu machen.

Welche Rolle spielt die technologische Entwicklung im Präventionsstaat?
2013 hat Edward Snowden enthüllt, wie die Massenüberwachung auf globaler Ebene funktioniert. Man dachte, wenn die Geheimdienste so viele Informationen sammeln, ertrinken sie in ihren Daten. Aber weil sie mit Algorithmen alles so präzise auswerten können, ergibt diese Überwachung eben sehr wohl Sinn. Mit dem Trend zur Verschlüsselung erfolgte eine Art technologischer Gegenschub, der die Überwachung etwas erschwerte. Die Reaktion der Staaten war: Gut, dann gehen wir wieder gezielt auf Einzelne los. So entstanden Hackingtools wie Pegasus, die nicht mal mehr einen Klick brauchen, um Computer zu infizieren. Die Technologie spielt also eine extrem grosse Rolle.

Der US-Politologe Bernard Harcourt vertritt in seinem Buch «Gegenrevolution» die These, dass westliche Regierungen unter dem Deckmantel des Antiterrorkampfs gegen Aufstände im Inneren vorgehen wollen. Wenn wir davon ausgehen, dass sich aufgrund der Klimakrise die sozialen Unruhen auch im Westen verschärfen: Was droht uns?
Ich kann Harcourts These weitestgehend folgen – auch wenn ich nicht gleich von der ganzen Bevölkerung sprechen würde, schliesslich waren vor allem einzelne Gruppen wie Flüchtlinge oder MuslimInnen von diesem Konflikt betroffen. Angesichts der Klimakrise glaube ich aber auch, dass die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen schärfer werden. Schon jetzt beobachten wir global einen «shrinking space» für die Zivilgesellschaft, einen enger werdenden Handlungsspielraum, in dem politische Aktivitäten und selbst Menschenrechtsarbeit eingeschränkt werden. Das Instrumentarium, das die Staaten aufgebaut haben, dient ihnen auch für künftige Auseinandersetzungen. Obwohl ich nicht sagen würde, dass diese Instrumente morgen gegen die Opposition eingesetzt werden, verschieben sich immer wieder die Grenzen: Was man vor zehn Jahren nicht für möglich hielt, ist heute akzeptiert.

Patrick Walder Foto: Tom Huber

Gibt es auch etwas, das Ihnen Hoffnung gibt?
Global, aber auch in Europa werden die Menschenrechte angegriffen. Gleichzeitig gibt es überall Menschen, die diese Rechte für sich einfordern – und sie als Ermächtigung oder Werkzeugkasten nutzen, um sich Gehör zu verschaffen. Das letzte Jahrzehnt war geprägt von Bewegungen: vom Arabischen Frühling über #MeToo und Black Lives Matter bis zum Klimastreik. Die Themen Überwachung und Terrorismus mobilisieren zwar nicht sehr viele Menschen, aber der erstaunlich hohe Nein-Anteil bei der Abstimmung übers Antiterrorgesetz ist ein Zeichen, dass in der Bevölkerung bestimmte Warnlampen angehen.

Sicherheit und Recht

Als Kampagnenleiter bei der Schweizer Sektion von Amnesty International befasst sich Patrick Walder (54) seit mehr als einem Jahrzehnt mit dem Thema Sicherheit und Menschenrechte. Zuvor arbeitete er als Redaktor bei der WOZ und als Journalist in Berlin, studierte in Genf internationale Sicherheitspolitik und war acht Jahre als IKRK-Delegierter in diversen Konfliktgebieten tätig, darunter 2003 in Afghanistan. Dort stiessen er und sein Team auf Geheimgefängnisse der CIA. Walder lebt in Zürich.

Foto: Tom Huber