Durch den Monat mit Tillie Kottmann (Teil 4): Wollen Sie in den Nationalrat?

Nr. 21 –

Warum Hacktivism für die Luzernerin Tillie Kottmann eine der effizientesten Formen von Aktivismus ist – und weshalb sie weiter übers Queersein redet, obwohl das nicht mehr nötig sein sollte.

«Ich habe fast schon Angst, dass ich jetzt Wahlchancen habe»: Tillie Kottmann auf ihrer Dachterrasse.

WOZ: Tillie Kottmann, Sie sagten letzte Woche, Sie verfolgten mit Ihren Hacks ein politisches Ziel. Was genau ist Ihre Motivation?
Tillie Kottmann: Unser Ziel ist schon die Überwindung des Kapitalismus. Es sollte auch kein geistiges Eigentum mehr geben. Falls wir das nicht erreichen, dann haben wir mindestens gewisse Firmen dazu gebracht, besser mit Kundendaten umzugehen, und die Datensicherheit im Netz ein klein wenig verbessert.

Mit Ihrem Hack auf das System des Sicherheitsunternehmens Verkada Inc. konnten Sie zeigen, dass gewisse US-Gefängnisse die Häftlinge pausenlos mit Videokameras überwachen. Verkada wird nun das System gegen Zugriffe von aussen absichern, doch weiter in die Zellen reinschauen. Was also hat es gebracht?
Klar hat es kurzfristig die Auswirkung, dass die Systeme technisch verbessert werden. Bei solchen Securitysystemen ist das aber nicht nur negativ. Böse gesagt: Solange diese Überwachungssysteme existieren, bin ich froh, wenn sie sicherer werden und nicht jedermann Zugriff darauf hat. Dass ich innerhalb eines Jahres so viele sensible Daten von grossen Unternehmen veröffentlichen konnte, beweist, dass sich niemand für die Datensicherheit interessiert. Es ist aber auch erstaunlich, was eine Person mit Hacktivism erreichen kann. Eine Einzelperson schafft es, dass die USA sie international als Staatsfeindin verfolgt.

Die Hacks haben Sie berühmt gemacht. Werden Sie auf der Strasse erkannt?
Ich bekomme manchmal komische Blicke. Aber die gab es schon immer. Ich bin ja sehr auffällig unterwegs, sehr pink, sehr offensichtlich queer. Heute bin ich mir einfach nicht mehr sicher, ob die mich anschauen, weil ich komplett pink rumlaufe oder weil sie wissen, wer ich bin. Das ist schon etwas komisch. Wenn ich nachts alleine unterwegs bin, fühle ich mich manchmal etwas unwohl. Physisch bedroht wurde ich aber noch nie.

Ist es Ihnen wichtig, dass das Queersein thematisiert wird? Eigentlich sollte es so normal sein, dass man nicht mehr darüber sprechen muss.
Ja, klar. Aber solange es nicht allgemein als normal angeschaut wird, muss man es halt doch irgendwie erwähnen. Bis man die Schweizer Presse dazu gebracht hat, mich korrekt anzusprechen, hat es einiges gebraucht. Und dann gibt es immer mal wieder in den Artikeln diese blöden Nebensätze …

Welche Nebensätze?
Etwa «sie identifiziert sich als nonbinär». Ich glaube, dass sie das aus amerikanischen Artikeln abgeschrieben haben, ohne sich etwas dabei überlegt zu haben. Dort gehört das bei gewissen Medien zu den Redaktionsrichtlinien. Sie dürfen die gendergerechten Pronomen they/them nur benutzen, wenn sie in ihrem Artikel den Satz einbauen, die Person definiere sich selber als nonbinär. Sonst kommt das in der Redaktion nicht durch. Es gibt dann in den Kommentarspalten oft Bemerkungen wie: «Ha, ha, die Person muss das jetzt mega hervorheben.» Nein! Ich will das gar nicht – das ist deren Redaktionsrichtlinie. Es ist unangenehm, wenn die Schweizer Presse das einfach übersetzt und einbaut. Ich käme sicher nie auf die Idee, zu sagen: «Könntet ihr bitte noch einen Nebensatz reinnehmen, wo erwähnt wird, dass ich mich als nonbinär definiere? Ich fänds voll cool, wenn ich noch ein bisschen mehr Onlinebeschimpfungen erhalten würde.»

Inzwischen scheinen die Schweizer Medien Sie korrekt anzusprechen.
Die meisten schon. Als allerdings die USA die Strafuntersuchung eröffneten, hat eine Zeitung – die mich vorher korrekt genderte – das plötzlich nicht mehr gemacht. Ihre Erklärung auf Twitter war: In der Anklageschrift würde ich als Mann angeklagt, deswegen hätten sie mich im Artikel auch so erwähnt. Spannende Erklärung, entschuldigt aber absolut gar nichts. Sie hätten auch einfach sagen können: «Okay, das steht da so, wir haben es so übernommen, tut uns leid, wir korrigieren das jetzt.» Doch sie gehen in den Verteidigungsmodus. Das verstehe ich nicht. Wenn sie sonst in einem Artikel einen Fehler machen, korrigieren sie den auch ohne grosses Aufheben.

Sie haben auf der Liste der Juso für den Luzerner Stadtrat kandidiert. Wie sehen Ihre politischen Pläne aus?
Ich werde sicher weiter bei den Juso und ausserparlamentarisch aktiv sein. Jetzt eröffnen sich vermutlich Möglichkeiten, die ich vorher nicht hatte.

Wollen Sie in den Kantons- oder in den Nationalrat?
Das muss ich mir noch überlegen. Ich habe fast schon Angst, dass ich jetzt Wahlchancen habe. Irgendwie würde es mich noch reizen. Den Juso gäbe es auch Presse, was nie schadet. Aber ich weiss es wirklich noch nicht, eigentlich sehe ich mich eher in anarchistischen Kreisen.

Wo stehen Sie in zehn Jahren?
Keine Ahnung. Dann sind hoffentlich meine juristischen Fälle erledigt. Konkrete Pläne habe ich keine. Mal schauen, was auf mich zukommt.

Die US-Behörden haben gegen die Luzerner Hackerin Tillie Kottmann (21) ein Strafverfahren eröffnet. Weil sie sensible gehackte Daten über ihren Twitterkanal geleakt hat, wurde ihr Konto schon dreimal gesperrt. Der aktuelle Account ist @uwuuwu00432527 .