Gedenken ist manchmal auch nur Verdrängung mit anderen Mitteln. Davon erzählt «Deine Strasse», der neue Film der Autorin und Regisseurin Güzin Kar. Nur sieben Minuten kurz ist er, aber er hallt länger nach als manch abendfüllendes Drama.

Die Strasse, von der er handelt, liegt in Bonn, «etwas abgelegen», wie die Offstimme von Sibylle Berg sagt, aber das ist eine sarkastische Untertreibung. Wir sind an den Rändern, wo die Stadt ausfranst, in der totalen Anonymität der Gewerbezone. Wetter grau, Asphalt grau, aber «Immer frisch unterwegs», so stehts auf den Lieferwagen der Grossbäckerei. Hier, zwischen Geleisen und Autowaschanlage, führt der Saime-Genç-Ring ins Nirgendwo. Eine Sackgasse, 556 Meter lang, benannt nach dem jüngsten Opfer der vier Neonazis, die im Mai 1993 bei einem Mordanschlag in Solingen ein Wohnhaus anzündeten.

Saime Genç wäre heute 32 Jahre alt. Sie war ein Kind von vier Jahren, als ihr Haus in Brand gesteckt wurde. Jetzt bleibt ihr nur «ewiges Leben in Asphalt», wie es im Film über diese trostlose Gedenkstrasse heisst. Man wollte also an die Opfer des Anschlags erinnern, nachdem ihre Namen verblassten, von den Namen anderer Opfer abgelöst wurden. Und weil das Zentrum schon besetzt ist, mit weniger fremdländisch klingenden Namen, fand man eben diesen Unort an der Peripherie. Aber ist das Erinnerung, wenn man einfach ein Stück Asphalt im Niemandsland nach Saime Genç benennt? Ist das nicht wieder nur eine Form von Verdrängung?

«Deine Strasse», beim Schweizer Filmpreis als bester Kurzfilm ausgezeichnet, stellt diese Gedenkkultur infrage und geht darüber hinaus. Der Kommentar, von Sibylle Berg gesprochen, ist ungerührte Anklage und zarte Trauerrede, ein später Abschiedsbrief auch. Dazu die unbewegten Einstellungen von Kameramann Felix von Muralt, der in dieser Gegend selbst dort eine widerspenstige Poesie findet, wo man sie nie suchen würde. So verwandelt der Film diesen Ort in etwas, was die Strasse vergeblich zu sein versucht: so etwas wie eine würdige Gedenkstätte für Saime Genç.

In: Winterthur, Kino Cameo, So, 30. Mai 2021, 15.30 Uhr; Frauenfeld, Cinema Luna, Fr, 11. Juni 2021, 17 Uhr.

Deine Strasse. Regie: Güzin Kar. Schweiz 2020