Schweizer Film: Schau mich an!

Nr. 15 –

Gerade im Spielfilm ist das Schweizer Kino so hochstehend und vielfältig wie lange nicht mehr. Auch die internationale Resonanz ist gross. Wo also bleibt das Publikum?

Die biederen Zeiten sind längst vorbei: Der fiebrig übersteuerte Liebesfilm «Soul of a Beast» mit Ella Rumpf demonstriert unbedingten Lebenshunger. Foto: Ascot Elite Entertainment Group

«Es ist zum Verzweifeln», sagte der Regisseur eines international preisgekrönten Spielfilms. Er hatte gerade die Premiere in England hinter sich, später beim Schweizer Filmpreis sollte sein Film gleich dreifach ausgezeichnet werden. Was den Regisseur deprimierte, war das Image des Schweizer Kinos hier im Land. Filme aus der Schweiz? Schaue sich ja kaum jemand an.

Der schlechte Ruf des Schweizer Spielfilms ist längst sprichwörtlich geworden, spätestens seit Stahlberger ihm eigens ein Lied widmeten. Der aufreizend schwerfällige Song macht sich über den landläufigen «Schwizer Film» lustig, dessen Figuren das, was sowieso schon offensichtlich ist, gerne auch noch aussprechen: «Si isch müed und gähnet und seit: ‹I bi müed.›» Allein, der Song hat auch schon einen Bart: Das Klischee, das er beschreibt, trifft schon länger nur noch bedingt zu.

Mitten auf der Bestenliste

Nur schon die Spielfilme, die in diesem Frühling im Kino landen, widerlegen es wieder mit aller Wucht. Sei das «La Mif» von Fred Baillif, dem eingangs erwähnten Regisseur, mit seinem episodischen Reigen über jugendliche Sexualität, Missbrauch und den Alltag in einem Genfer Jugendheim. Sei das jetzt «Soul of a Beast» von Lorenz Merz, dieser fiebrig übersteuerte Liebesfilm, der in seinem entfesselten Stilbewusstsein wirkt, als wolle er die beliebtesten Vorurteile über den Schweizer Film (bieder, behäbig, unsexy) mal eben in die Luft jagen. Oder dann, weil das sogenannt Einheimische im Kino auch sehr kosmopolitisch sein kann: «Wet Sand» von Elene Naveriani, dieses Melodrama über Liebe und Trauer am Schwarzen Meer, das man getrost einen queeren Kaurismäki auf Georgisch nennen könnte. Ganz zu schweigen von «Olga» von Elie Grappe, diesem leider brandaktuellen Drama über eine ukrainische Kunstturnerin, die den demokratischen Umsturz in ihrem Land 2013 nur aus der Ferne im Schweizer Exil mitbekommt.

Und von den etwas sperrigeren Sachen, die zuletzt von der internationalen Filmkritik gefeiert wurden, haben wir da noch gar nicht gesprochen. Die Gebrüder Silvan und Ramon Zürcher etwa, die zum Jahresende mit «Das Mädchen und die Spinne» auf der Bestenliste der ehrwürdigen «Cahiers du cinéma» landeten, mitten in den Top Ten, hinter Filmen wie «The French Dispatch» von Wes Anderson und dem Oscargewinner «Drive My Car». Oder auch «Azor» von Andreas Fontana, dieser geschmeidige Thriller über die Herkunft des Schweizer Wohlstands: hymnische Kritiken im «Guardian», im «New Yorker» und in der «New York Times», ebenso in den massgeblichen Branchenmagazinen «Variety» und «Screen International». Und in den Schweizer Kinos? Hier zählten diese beiden Filme zusammengerechnet gerade mal rund 5000 Eintritte.

International mag der Ruf von Schweizer Spielfilmen derzeit so gut sein wie lange nicht mehr – aber hierzulande erreichen sie im Kino auch jetzt nicht viel Publikum. Oder nur in Einzelfällen wie aktuell dem Westschweizer Erfolgsfilm «Presque» von und mit Bernard Campan und Alexandre Jollien: Typus herzerwärmende Komödie über zwei ungleiche Freunde und mit 50 000 Eintritten derzeit der vierterfolgreichste Kinofilm des Jahres in der Romandie, hinter millionenschweren Superhelden wie Batman und Spider-Man.

Doch das sind Ausnahmen. Im Kino liegt der Marktanteil für Schweizer Filme durchschnittlich bei etwas über fünf Prozent, und zwar seit Jahrzehnten schon. Den einzigen deutlichen Ausreisser nach oben gab es ausgerechnet im ersten Jahr der Pandemie, auch «dank» der Pandemie. 2020 stieg der Marktanteil ausnahmsweise auf knapp vierzehn Prozent, wobei das allein auf einen einzigen Film zurückzuführen war, der drei Monate lang sehr erfolgreich lief, bis die Kinos wegen des Lockdowns schliessen mussten: «Platzspitzbaby» von Pierre Monnard. Doch kommerzielle Publikumsfilme dieser Art sind in der Schweiz selten – und lassen sich auch nicht kalkulieren. Hinzu kommt, dass es aufgrund der Sprachgrenzen gar keinen einheitlichen Schweizer Kinomarkt gibt, weshalb selbst die erfolgreicheren Spielfilme selten über alle Regionen hinweg reüssieren. Exemplarisch bei «Platzspitzbaby»: Der Film erzielte 335 000 Eintritte, aber keine zehn Prozent davon in der Romandie.

Verwalten statt verkaufen

Beim Streamingkonsum sind die Zahlen noch ernüchternder, zumindest abseits von Serienerfolgen wie «Wilder» oder «Tschugger». Gemäss einer Erhebung des Bundesamts für Statistik für das Jahr 2019 hatten Streamingdienste mit Abomodell damals rund zehn Prozent Schweizer Filme im Angebot – aber was die Nutzung betrifft, lag deren Marktanteil bei weniger als einem Prozent. Oder wie Tamedia in einer hämischen Schlagzeile bilanzierte: «Kein Mensch schaut Schweizer Filme auf Netflix». Aber gut, wieso sollten sie das auch auf Netflix tun, für Schweizer Filme gibts ja die SRG mit ihrer Streamingplattform Play Suisse.

Erinnert sich übrigens noch jemand an Nicolas Bideau? Der Sohn des Schauspielers Jean-Luc Bideau war 2005 aus dem diplomatischen Dienst zum Filmchef beim Bundesamt für Kultur befördert worden, mit gerade einmal 36 Jahren. In der Filmförderung gebärdete er sich dann allerdings mehr wie ein Marketingchef. Sein Lieblingsslogan damals: «Qualité et popularité.» Bideau hielt sich nur fünf Jahre, auf den Verkäufer folgte dann ein Verwalter: Ivo Kummer, seit bald elf Jahren im Amt, Pensionsalter absehbar.

Nicht dass das Schweizer Kino jetzt dringend wieder einen Verkäufer wie Bideau in Bern nötig hätte. «Qualité et popularité», das war als kulturpolitische Ansage reichlich einfältig. Aber sofern man die beiden Begriffe nicht durcheinanderbringt, können sie durchaus helfen, den Blick zu schärfen. Gerade jetzt, vor der Abstimmung über das Filmgesetz am 15. Mai, geht ja gerne vergessen: Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun. Ein Film ist nicht gut oder schlecht, nur weil er sich, im Kino oder auf irgendeiner Streamingplattform, als besonders populär erweist. Ob etwas viel Publikum findet oder nicht, ist schlicht kein Indiz für gutes oder schlechtes Kino.

Und wer das Gegenteil behauptet, verrät damit bloss ein armseliges Kulturverständnis, nach der Logik: Was sich nicht rechnet, kann sein Geld nicht wert sein.

«La Mif», «Presque» und «Olga» laufen weiterhin im Kino, «Wet Sand» folgt am 5. Mai 2022.

«Soul of a Beast»

«Fuck, ich muss zu den Pinguinen!» Auf Meskalin steigen sie nachts in den Zoo ein, da fällt dieser komische Satz – und am Ende steht eine Giraffe buchstäblich unter Strom. Das wären so die tierischen Eckpunkte in «Soul of a Beast», diesem sehr unschweizerisch frenetischen Liebesfilm von Lorenz Merz.

Mittendrin: der Skateboarder Gabriel (Pablo Caprez), der mit seinem kleinen Sohn lebt, weil seine Ex (Luna Wedler) ihr Leben gar nicht auf die Reihe kriegt und als sedierte Prinzessin an der Goldküste verdämmert. Und dann Gabriels grosse Liebe: Corey (Ella Rumpf) und ihr unbedingter Lebenshunger. Aber wie soll das gehen, mit der Verantwortung des jungen Vaters?

Der Puls bleibt hoch, die Nacht leuchtet fast wie bei Wong Kar-Wai, die Tonspur ein wucherndes Babylon: «Soul of a Beast» schafft es tatsächlich, die Schweiz zu jener vibrierenden Metropole zu verdichten, die Zürich so gerne wäre – und zwischen Party und Notstand hebt die Liebe zuletzt die Welt aus den Angeln.

«Soul of a Beast». Regie und Drehbuch: Lorenz Merz. Schweiz 2021. Jetzt im Kino.