Durch den Monat mit Güzin Kar (Teil 1): Doch lieber Mohrenköpfe

Sie sind in der Türkei geboren. Wann?
Vor genau neunzehneinhalb Jahren.

Oh, da sind Sie sehr jung!
Nein, natürlich nicht, ich lüge wie gedruckt, das tun alle Türken.

Sie sind doch gar nicht Türkin, sondern Schweizerin?
Doch, ich bin Türkin. Seit zwei Monaten habe ich allerdings auch den Schweizer Pass. Und am 26. September werde ich zum ersten Mal abstimmen. Aber ich glaube, es wird gar nichts Besonderes sein. Bis jetzt wusste ich jedes Mal, was ich gestimmt hätte. Nur, dass ich es dieses Mal auch tun werde.

Und welches Geburtsdatum steht im Schweizer Pass?
Irgendwann, vor vielen, vielen Jahren bin ich in der türkischen Hafenstadt Iskenderun geboren, wo ich mit meiner Familie in einem sehr armen Randbezirk lebte. Die Strassen waren ständig überflutet, und ich weiss noch, dass immer wieder Menschen ertranken. Die Stadt war lange syrisch, dann türkisch; die Bevölkerung ist türkisch-arabisch gemischt. Die Syrer zeichnen die Stadt auf ihren Karten immer als syrisch ein. Ich weiss auch nicht, weshalb. Jedenfalls verbrachte ich meine ersten fünf Jahre dort.

Warum ist Ihre Familie in die Schweiz eingewandert?
Mein Vater fand Arbeit in der Schweiz, als Hilfspfleger. Damals holte man ja in ganz Europa Arbeitskräfte von ausserhalb. Meine Eltern haben diese Chance genutzt. Sie kommen aus so einfachen Verhältnissen, das kann man sich hier gar nicht vorstellen. Das Motto war einfach: Alles oder nichts. Ich bin in der ganzen Familiengeschichte die erste Frau, die lesen und schreiben gelernt hat! Und zwar von meinem Bruder. 
Er brachte es mir bei, als ich viereinhalb war, weil ich meinem Vater unbedingt 
einen Brief in die Schweiz schreiben wollte.

Wie war das für Sie, plötzlich hier zu leben?
Wir sind in ein Dorf bei Laufenburg gezogen und wohnten dort in den Personalhäusern des Spitals, in dem mein Vater arbeitete. Es lebten eigentlich nur Ausländer dort. Aber wir waren die einzigen Türken weit und breit. Die ersten zwei Jahre waren – glaube ich – schon schwierig, weil ich die Sprache nicht konnte.

Sie misstrauen Ihren eigenen Erinnerungen?
Ja, denn in der Erinnerung fehlen ganze Blöcke, und rückblickend verklärt sich vieles. Misstrauisch machen mich auch diese geselligen Runden, in denen die Leute von früher erzählen und sich alles irgendwie ähnlich anhört. In der Filmschule Ludwigsburg, die ich besuchte, stellten wir irgendwann fest, dass wir zwar aus den unterschiedlichsten Verhältnissen kommen – aber alle behaupten, sie seien als Kind ausgestossen gewesen. Mehr noch, wir haben fast darum gestritten, wer der Ausgestossenste war. Ich würde natürlich sagen, ich sei die Ausgestossenste gewesen.

Wieso wollen Sie denn die Ausgestossenste gewesen sein?
Das ist ein Luxusgefühl. Etwas Besonderes, anderes als der Rest gewesen zu sein.

Und woran machen Sie diese Erinnerung fest?
Ich weiss noch, dass ich ständig versuchte, für alles einen Durchschnittswert zu finden, eine Norm sozusagen. Daran konnte ich mein Verhalten messen, um mich dann anzupassen. In der Schule fragte uns die Lehrerin einmal nach der Lieblingssüssspeise. Mir war völlig klar, dass ich Erdbeertorte sagen würde, weil ich Erdbeertorte liebte. Aber alle Kinder vor mir sagten Mohrenkopf, und als ich an der Reihe war, sagte ich auch Mohrenkopf – obwohl ich überhaupt nicht wusste, was das ist.

Trotz diesem Misstrauen stecken Ihre Filme voller Kinder, und Ihr erster Film, «Lieber Brad», der vor drei Jahren im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde, spielt sogar am Ort Ihrer Kindheit.
Kindheitserinnerungen machen trotz allem Spass. Und zu Laufenburg: Diesen Ort kenne ich so gut – ich konnte mich von den realen Schauplätzen leiten lassen und schrieb meine fiktiven Figuren in eine reale Welt hinein. Ausserdem finde ich, dass Laufenburg genau das verkörpert, was die Schweiz ausmacht: Es ist ein Provinzort, in dem weder die totale Anonymität noch die totale Nähe herrscht. So lebt die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer, das kennen wir alle.

Gerade Sie machen einen Film, der vom typisch Schweizerischen erzählt?
Warum nicht? Der Film spielt zwar in einer typischen Schweizer Gegend, handelt aber nicht von typisch Schweizerischem. Das ist gerade das, was die Besonderheit an meinen Geschichten ist: reale Schauplätze, aber Begebenheiten und Emotionen, die universell sind, die überall stattfinden könnten.

GÜZIN KAR, Alter geheim («irgendwo in den Dreissigern»), ist Drehbuchautorin und Regisseurin.